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Bakteriophagen statt Antibiotika Kampf mit Viren gegen resistente Keime

Im Kampf gegen Antibiotika-Resistenzen entdeckt die Medizin ein altes Heilmittel neu: Bakteriophagen. Die Viren sind für Menschen ungefährlich, aber bei vielen bakteriellen Infektionen effektiv und können sogar lebensrettend sein.

Stand: 28.06.2023

Bakteriophagen - das neue, alte Heilmittel bei bakteriellen Erkrankungen - sind im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen und gegen multiresistente Keime vielversprechend, | Bild: picture-alliance/dpa

Was tun, wenn Antibiotika nicht mehr wirken? Schon lange ist die Medizin auf der Suche nach Behandlungsalternativen zu den durch multiresistente Keime zunehmend stumpf gewordenen einstigen Wunderwaffen Antibiotika. Nun hat sie einen anscheinend genialen Ersatz gefunden: Bakteriophagen (was nichts anderes heißt als "Bakterienfresser"), oder kurz Phagen. Dabei handelt es sich um Viren. Ihr Vorteil: Sie sind für den Menschen völlig ungefährlich, weil sie nur Bakterien angreifen. Zudem sind die Phagen massenhaft zu haben, weil sie überall dort auftauchen, wo Bakterien sind.

Was die Phagen gegenüber Antibiotika außerdem unschlagbar macht ist, dass die gegen sie gebildeten Resistenzen für den Menschen ungefährlich sind. Phagen-resistente Bakterien, also solche, die Phagen wirkungslos werden lassen, können nämlich - anders als Antibiotika-Resistenzen - beim Menschen keine Krankheiten mehr auslösen. Außerdem vermehren sich Phagen ebenso schnell wie Bakterien und passen sich Veränderungen an. Die wenigen phagen-resistenten Bakterien können den Behandlungserfolg nicht mehr gefährden.

So töten Bakteriophagen ihre natürlichen Feinde

Ihre Wirkungsweise ist einfach: Der Phage - ein Virus - heftet sich an die Bakterienzelle, schleust seine eigenen Erbinformationen in sie hinein und übernimmt damit die Kontrolle. Die Bakterie produziert nun lauter neue Phagen. So viele, bis sie platzt und dadurch scharenweise Phagen-Nachwuchs freisetzt. Jeder von ihnen kann nun wieder eine Bakterienzelle angreifen. Die Kettenreaktion läuft, solange Bakterien da sind. Die Bakterien gehen zugrunde und werden vom menschlichen Körper abgebaut.

Bakteriophagen - kein neues Heilmittel

Schon vor mehr als100 Jahren haben der englische Arzt Frederick Twort und der Franko-Kanadier Félix d’Herelle die Bakteriophagen entdeckt. Insbesondere bei bakteriellen Infektionen ist die Behandlung mit Phagen erfolgversprechend. Das betrifft vor allem Diabetiker, deren Wunden lange offen bleiben und die sich dann oft entzünden, oder Patienten mit Unfallverletzungen die nicht heilen - manchen von ihnen konnte die Phagenbehandlung eine Amputation ersparen. Aber auch chronisch Lungenkranken, wie zum Beispiel Mukoviszidose-Patienten, kann eine Phagenbehandlung helfen. Und auch schwer Brandverletzten, deren Haut nicht mehr vor Infektionen schützen kann, haben Bakteriophagen schon das Leben gerettet.

Die hohe Spezialisierung der Bakteriophagen - Vorteil und Nachteil zugleich

Bakteriophagen sind jeweils spezialisiert auf eine Bakterienart, oder sogar auf einzelne Stämme innerhalb einer Art. Das ist zum Beispiel bei Darmerkrankungen wie dem Reizdarmsyndrom vorteilhaft, weil Bakteriophagen - anders als Antibiotika - die "guten" Bakterien der Darmflora unbehelligt lassen und keine entsprechenden Nebenwirkungen verursachen. Ein Nachteil ist genau das allerdings in der täglichen Praxis: Um den richtigen Phagen auszuwählen, muss man erst analysieren, welches Bakterium die Beschwerden auslöst. Das dauert einige Zeit: Man muss eine Probe nehmen, die Bakterien vermehren und analysieren. Um diese Verzögerung zu vermeiden, werden zunächst Mischungen von Phagen gegen häufige Bakterien eingesetzt. Sie erzielen aber nicht immer die gewünschte Wirkung, zum Beispiel bei den gefürchteten antibiotikaresistenten Staphylokokken - den auch als MRSA bekannten multiresistenten Keimen, die immer wieder als sogenannte Krankenhauskeime auftreten. Einem Team aus österreichischen, deutschen und schweizerischen Forschern ist es laut einer im April 2021 veröffentlichten Forschungsarbeit erstmals gelungen, Phagen zu züchten, die gegen ein breites Spektrum von multirestenten Staphylokokken-Stämmen wirken.

Genialer Antibiotika-Ersatz: Bakteriophagen haben kaum Nebenwirkungen

Die Behandlung mit Phagen hat kaum Nebenwirkungen. Wenn ein Patient Phagen als Tablette oder flüssig schluckt, kann ein schlechter Geschmack auftreten. Selten kommt es zu einer erhöhten Temperatur oder - bei lokaler Anwendung - zu einer leichten allergischen Reaktion.

Bakteriophagen - Antibiotika des Ostens

Phagen sind außerdem billig, viel billiger als Antibiotika. In Osteuropa ist der Einsatz von Bakteriophagen seit Langem problemlos möglich, der Erfahrungsschatz ist entsprechend groß.

In Westeuropa ist das anders. Hier setzte die Medizin vor allem auf Antibiotika. Und lange konnte sie sich darauf verlassen. Die immer häufiger auftretenden Antibiotikaresistenzen bereiten jedoch zunehmend Probleme. Es wird nach neuen Antibiotika geforscht, doch die sind nicht so leicht zu finden.

Die Therapie mit Bakteriophagen ist in Westeuropa nur eingeschränkt möglich: Nach den Ethik-Regeln des Welt-Ärztebundes dürfen Ärzte Bakteriophagen nur verwenden, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind. Bislang gibt es in Deutschland keine zugelassenen Phagen-Medikamente, die Therapie mit Bakteriophagen ist nur im Rahmen von Studien oder als Einzelfallbehandlung möglich.

Fortschritte der Phagentherapie in Deutschland

Immerhin hat das Bundesforschungsministerium im Herbst 2017 das Projekt "Phage4Cure" genehmigt, das als erstes in Deutschland eine klinische Studie mit Phagen enthält. Ein weiteres, 2019 gestartetes und vom Gemeinsamen Bundesausschuss (gBA) öffentlich gefördertes Projekt mit dem Ziel der Phagentherapie ist PhagoFlow. Das Projekt ist allerdings keine klinische Studie sondern eine Praktikabilitätstestung der Umsetzbarkeit der Phagentherapie in Deutschland und zielt auf die breitere Versorgung.

Mittlerweile hat das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) den Weg der Phagentherapie deutlich geebnet: mit der Gründung des Expertenetzwerks TransPhage-Net, der Entwicklung einer Leitlinie für Phagentherapie, der Entwicklung eines Registers und der Finanzierung des im Herbst 2022 gestarteten Projekts EVREA-Phage. Innerhalb des DZIF werden auch weitere Phagenprojekte finanziert.

Belgien ist da schon weiter: Im Januar 2018 führte es als erstes westliches Land die Phagentherapie als reguläre Behandlung ein. Über die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) und das Europäisches Direktorat für die Qualität von Arzneimitteln (EDQM) - die beide für die Sicherheit und Überwachung von Arzneimitteln in der EU zuständig sind - gibt es auch auf EU-Ebene die Bestrebung, nach belgischem Vorbild Qualitätsstandards für Phagenprodukte zu entwerfen. Bei bis zu 35.000 Patienten, die sich allein in Deutschland jedes Jahr mit einem antibiotikaresistenten Bakterium infizieren - wovon einige Tausend sterben - ist das ein wichtiger Schritt.

Sendungen zu Bakteriophagen:


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