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BR/SWR-Doku "Verschwunden in Deutschland" "Die Schicksale lassen einen nicht mehr los"

Zahllose minderjährige Jugendliche sind als Flüchtlinge alleine nach Deutschland gekommen. Tausende von ihnen sind einfach "verschwunden". Wie kann das sein? Wo sind sie? Die ARD-Reporterinnen Natalie Amiri und Anna Tillack waren den Vermissten auf der Spur. Auf ihren Recherchen zu ihrem Film "Verschwunden in Deutschland" stießen die Filmemacherinnen auf die kriminelle Welt des Drogen- und Strichermilieus und auf Missstände, über die niemand offen reden will. Die Kollegen vom SWR sprachen mit den Autorinnen.

Von: Patrizia Zouroufidou

Stand: 27.03.2017

Die Macherinnen Natalie Amiri und Anna Tillack | Bild: BR/Tillack-Amiri

Erst waren die Jugendlichen ihren Schleppern ausgeliefert. Jetzt, in Deutschland, sind sie auf sich alleine gestellt, leicht manipulierbar, einfach auszubeuten. Einer der Verschwundenen: Mubarak aus Afghanistan. Er war in Bautzen untergebracht. Plötzlich war er weg. Ist er untergetaucht, abgehauen oder in die Fänge von Kriminellen geraten? Bei der Polizei ist er als vermisst gemeldet, doch die Behörden wissen nichts über den Jungen. Natalie Amiri und Anna Tillack suchten nach Mubarak - und fanden ihn.

Frau Amiri, Frau Tillack, Sie waren minderjährigen verschwundenen Flüchtlingen auf der Spur. Harte Kost, auch für Medienprofis. Warum dieses Thema?

Anna Tillack: Anfang 2016 gab das Innenministerium die Meldung heraus, dass um die 8.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) als vermisst gemeldet sind. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung von den Behörden damit abgespeist, dass ein Großteil einfach nur weitergezogen sei. Dann verschwand dieses Thema wieder aus den Medien. Natalie Amiri und ich stellten uns unabhängig voneinander die Frage, wo diese Kinder jetzt sind, was sie erlebt haben und wie es ihnen geht. Zwar äußerten Flüchtlingsorganisationen schon damals immer wieder Bedenken, dass diese Jugendlichen anfällig sind und daher potentielle Opfer krimineller Kreise werden könnten. Doch niemand wusste genaues. In der anfänglichen Recherche ist uns bewusst geworden: Keiner kennt sich aus mit diesem Personenkreis. An diesem Punkt begann der Film.

Wenn niemand genaues wusste, wie haben Sie sich auf das Thema vorbereitet? Wie haben Sie recherchiert?

Anna Tillack: Für unsere Recherchen gab es keine Vorlagen und Fakten auf dem Papier, die wir von den Behörden hätten einholen können. Es gibt keine Analysen darüber, keine Zahlen, was uns irritierte. Wir begannen also unsere Suche nicht im Internet und am Schreibtisch im Büro, sondern auf der Straße, an Bahnhöfen, in Parks, an Brennpunkten deutscher Großstädte. Oft stundenlang wartend bis der richtige Moment kam, um uns in diese mitunter gefährliche Szene vorzuarbeiten. Uns wurde mit der Zeit klar, dass viele dieser Jugendlichen längst in einer Parallelwelt in Deutschland leben. Eine Welt, die schwer zugänglich ist für Journalisten. Deshalb auch von Anfang an unsere Entscheidung, selbst mit kleiner Kamera zu drehen, so dass wir so unauffällig wie möglich sind und möglichst wenig Einfluss auf das Geschehen nehmen, das sich direkt vor unseren Augen abspielte. 

Sie sind auf der Suche nach dem afghanischen Jugendlichen Mubarak in die kriminelle Subwelt des Drogen- und Strichermilieus geraten. Wie schwierig waren die Recherchen? Wie offen sind Ihnen die Menschen vor der Kamera begegnet?

Natalie Amiri: Überhaupt nicht offen. Verschreckt, eingeschüchtert und ängstlich, so begegneten uns die meisten unserer Protagonisten am Anfang. Es dauerte, bis wir ihr Vertrauen gewinnen konnten. Auch für uns wurde, je näher wir den Protagonisten kamen, klar, wie verletzlich sie sind. 

Diese jungen Menschen haben ein riesen Päckchen auf dem Rücken, wenn sie hier ankommen. Sie denken ständig an ihre Verwandtschaft, ob es denen gut geht. Uns wurde klar, dass viele ein Punkt verbindet: Sie kommen mit dem Auftrag, Geld heimzuschicken. Sie stehen permanent unter Druck und unser deutsches Jugendhilfesystem hat dafür bisher kein Ventil gefunden. Oft bleiben deshalb nur "Arbeitsangebote" aus der illegalen Halbwelt.

Frau Amiri, Sie sprechen sechs Sprachen, darunter Farsi, Dari und Arabisch. Ist das Beherrschen der Sprachen ein Türöffner in den Gesprächen gewesen?

Natalie Amiri: Zwar trafen wir auf viele, die bereits begonnen hatten, deutsch zu lernen. Doch um sie wirklich kennenzulernen, Vertrauen aufzubauen, war der Wechsel in ihre eigene Sprache, vor allem in prekären Situationen, immer von Vorteil. Oft öffneten sie sich erst in diesem Moment, beziehungsweise nahmen uns dadurch erst in ihre Welt mit. Gleichzeitig berührte uns jedoch immer wieder die Tatsache, dass viele der Jungen, auch die, die bereits abgerutscht waren, sich bemühten, mit uns deutsch zu reden.

Natalie Amiri

Natalie Amiri wurde 1978 in München geboren. Sie studierte Orientalistik, Islamwissenschaft und Kommunikationswissenschaft. Von 2005 bis 2007 war sie in der Presse- und Politikabteilung der Deutschen Botschaft in Teheran tätig. Von 2007 bis 2011 war sie Producerin/ Reporterin im ARD-Studio Teheran. 2012 wechselte sie zum Bayerischen Rundfunk. Immer wieder übernahm sie Studiovertretungen in den ARD-Studios Rom, Athen, Istanbul und Teheran. Als Reporterin ist sie für "Report München" tätig und als Moderatorin für den "Weltspiegel" und "Euroblick". Natalie Amiri ist Autorin zahlreicher Auslandsdokumentationen. Seit 2015 ist sie ARD-Studioleiterin in Teheran.

Am Ende haben Sie Mubarak gefunden. Etwas, das den Behörden nicht gelungen ist. Wie ist Ihr persönliches Resümee, was die Situation von minderjährigen alleinreisenden Flüchtlingen in Deutschland angeht?

Mubarak war verschwunden.

Anna Tillack: Im Zuge unserer Recherchen wurde uns klar, wie wenig die deutschen Behörden seit dem Beginn der Flüchtlingskrise Ende 2014 über die Flüchtlinge hier wirklich wissen. Zwar werden von unterschiedlichsten Behörden viele Daten erhoben, jedoch fehlt oft der Austausch. In der Eurodac-Datei wird der Fingerabdruck genommen, aber nicht der Name. Im Schengener Informationssystem werden nur die Namen gespeichert, aber nicht die Fingerabdrücke. Also Informationschaos. Dazu kommt, dass viele Flüchtlinge bis heute noch immer keinen Fingerabdruck abgegeben haben. Schon lange machen Sicherheitskreise Druck auf die Ministerien hier, ein übergreifendes von allen zugängliches Netzwerk mit modernen Tools wie Lichtbilderkennung einzuführen und anzuwenden. Doch es geht nur schleppend voran. 

Die Vermisstendatenbank ist beispielsweise für Beamte im Ausland nur in Ausnahmefällen zugänglich. Unser Protagonist Mubarak wurde mehrfach von der Polizei sowohl in Deutschland, als auch in Frankreich kontrolliert, jedoch gab es nie Rückschlüsse zu seiner Vermisstenanzeige. Hinzu kommt, dass viele der Flüchtlinge, bewusst oder unbewusst, unterschiedliche Namen angeben. Als wir beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) versucht haben, herauszufinden, ob unser Protagonist einen Asylantrag gestellt hat, musste das System selbst für diese einfache Auskunft mehrfach wochenlang durchforstet werden.

Anna Tillack

Anna Tillack wurde 1985 in Traunstein geboren. Sie studierte Komparatistik, Französisch und Politikwissenschaft. Von 2011 bis 2013 absolvierte sie ein Trimediales Volontariat beim Bayerischen Rundfunk. Sie ist für die Redaktionen "Report München" tätig, für die "Rundschau" und "ARD aktuell" und übernimmt regelmäßige Korrespondentenvertretungen in den BR-Auslandsstudios Italien, Griechenland, Österreich/Balkan, Türkei außerdem setzte sie Auslandsreportagen in Italien, Jordanien und Afrika um.

Sucht überhaupt jemand ernsthaft nach diesen Jugendlichen? 

In München hat sich eine neue Drogenszene etabliert.

Natalie Amiri: Kurz nach Beginn der Flüchtlingsbewegung stieg die Zahl der Vermisstenanzeigen der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge so drastisch an, dass die polizeilichen Dienststellen völlig überfordert waren, bestätigt uns das LKA Bayern in einem Interview. Aktiv werde niemand gesucht, weder von den Beamten noch von den Jugendämtern. Eine Lobby, die sich für diese vermissten Jugendlichen einsetzt, existiert nicht. Beziehungsweise gewannen wir den Eindruck, dass es den zuständigen Behörden nicht ganz unrecht ist, die Zahl der zu betreuenden Jugendlichen durch diesen "natürlichen Schwund" zu verringern.  

Die Unkenntnis über die Identität und den Aufenthaltsort, sowie unkontrolliertes Reisen innerhalb Europas, könnte für Deutschland und Europa zu einem Sicherheitsproblem werden. Diese Gruppe von Menschen ist verletzlich, angreifbar und leicht zu manipulieren. Gefundenes Fressen für kriminelle Kreise und Salafisten. Eine hochexplosive Kombination. Für uns nicht nachvollziehbar, dass diese Tatsache von der Politik heruntergespielt wird. Auch in Zeiten steigender Terrorgefahr.

Frau Amiri, Frau Tillack, Sie befassen sich beide mit Themen, die Menschen auf eine emotionale Achterbahnfahrt mitnehmen. Wie gut ist man als Journalistin/Journalist selbst darauf vorbereitet?

Natalie Amiri: Wir haben uns am Anfang völlig in die Arbeit gestürzt und versucht in dieser neuen Umwelt klarzukommen, aber sie auch zu verstehen. Überhaupt reinzukommen. Dabei funktioniert man in erster Linie. Hat sein Ziel vor Augen. Die Gedanken, was diese Leute für ein Schicksal erfahren haben und wie brutal die Realität ist, kommen oft erst später. Eigentlich erst dann, wenn man abschalten will und merkt, wie sehr einen die Bilder immer noch beschäftigen, die Schicksale einen nicht mehr loslassen. 

Anna Tillack: Hinzu kommt, dass uns klar ist, wie emotional aufgeladen dieses Thema ist, wie kontrovers es seit Monaten in Deutschland diskutiert wird. Am wenigsten kann man sich wahrscheinlich auf die Reaktionen vorbereiten, die dieser Film hervorrufen wird. 


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