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Abschied nehmen Der Mensch Mariss Jansons

Viele berührende und bewegende Nachrufe waren anlässlich des Todes von Mariss Jansons zu lesen, zu hören und zu sehen, die den Werdegang und die großen Erfolge des international hochgeachteten Dirigenten wiedergaben. Aber welche Voraussetzungen brauchte es, um genau zu diesem Menschen Mariss Jansons zu werden? So, wie er uns gegenüberstand und uns in seinen Konzerten immer wieder aufs Neue begeisterte und inspirierte?

Von: Dr. Renate Ulm, PB BR-KLASSIK

Stand: 05.12.2019

Mariss Jansons | Bild: Markus Dlouhy

Mariss Jansons (14. Januar 1943 – 1. Dezember 2019)

Jansons war Chefdirigent von Chor und Symphonieorchester

Freundschaft

Trauerfeier für Mariss Jansons in St. Petersburg

Seine Offenheit – und auch seine Verschlossenheit – gegenüber Menschen mag in der frühesten Kindheit angelegt worden sein. Als seine jüdische Mutter ihn in einem Versteck im Rigaer Ghetto gebar, musste sie, wenn ihr jemand begegnete, schnell beurteilen können, ob dies ein Freund oder ein Feind war. Freundschaft bedeutete überleben.

An diesen menschlichen Entscheidungen, gerade hinsichtlich seiner Zuneigungen, hielt Jansons fest, sie waren für ihn lebenslange Bekenntnisse über alle Bedrängnisse hinweg. Auch als er schon hochdekorierter Dirigent war, blieb für ihn der Begriff Freundschaft etwas Unantastbares.

Probe mit dem Orchester

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hatte er von der ersten Stunde an ins Herz geschlossen. Es blieb eine innige Verbindung, für die Jansons sogar andere bedeutende Positionen ausschlug. Den Musikern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks zuliebe setzte er sich – neben seinen grandiosen Konzerten – unermüdlich für einen neuen Konzertsaal in München ein, weil er sah, dass dieses wunderbare Orchester auf ständiger Wanderschaft mit seinen Instrumentenkisten zwischen den verschiedenen Sälen hin- und herzog. Es war geradezu eine logische Konsequenz für ihn, das Preisgeld des ihm verliehenen Ernst von Siemens-Musikpreises als Grundstock für den Saal zu stiften. Gerne wäre er bis 2024 am Pult seines geliebten Orchesters gestanden und hätte das Konzerthaus eingeweiht …

Oper und Regie

Nach dem Zweiten Weltkrieg zog die Familie Jansons nach St. Petersburg / Leningrad, weil Arvids Jansons, sein Vater, Assistent von Jewgenij Mrawinskij wurde. Hier lebte Mariss Jansons in einem fast ausschließlich musikalischen Umfeld: Seine Mutter war Mezzosopranistin an der Oper, sein Vater Dirigent, er spielte Geige und Klavier und war schon als Kind den ganzen Tag in der Oper.

Er erlebte Proben, Aufführungen mit bedeutenden Dirigenten und Inszenierungen großer Regisseure. Aus diesen Tagen resultierte seine Leidenschaft für die Oper. Später konnte er Operndirigate aus gesundheitlichen Gründen nur noch selten ausüben, zu anstrengend war die lange Probenarbeit für ihn nach einem ersten schweren Herzinfarkt 1996. Das Münchner Publikum durfte immerhin die konzertant aufgeführten Opern "Pique Dame" und "Jewgenij Onegin" als interpretatorische Entdeckungen aufnehmen. Geprägt haben Mariss Jansons aber von klein auf auch die großen Emotionen, das mächtige Pathos und die spannungsvolle künstlerische Dramatik, die er als Kind tagtäglich in sich aufgenommen hatte. Er wurde als Dirigent zugleich ein Regisseur am Pult, der die Spannungsfelder in der Musik aufzeigte, die große melodische Linie verfolgte, die unterschwellige Dramatik und die emphatischen Konflikte herausarbeitete. Um das zu können, war akribisches Partiturstudium erste Voraussetzung. Bis zu seinem Tod waren Mariss Jansons daher die Partituren alles. Sie erforschte er analytisch und setzte diese Erkenntnisse mit seinen Musikern um.

Partitur als klingendes Buch

Mariss Jansons 2005 bei einer Probe in Luzern

Dass Mariss Jansons gerade Beethoven, Tschaikowsky, Mahler und Schostakowitsch kongenial interpretierte, lag daran, dass er im Lesen und Erarbeiten der Partitur den Kern seiner Tätigkeit sah. Es war für ihn das größte Vergnügen, wenn er etwas entdeckte, das er den Musikern mitteilen und im musikalischen Kontext herausarbeiten konnte. Wenn ihn seine Frau Irina endlich einmal zu einem Urlaub am Meer hatte überreden können, saß Mariss Jansons im Schatten über die Partituren gebeugt und las die Musik, ließ sie vor dem inneren Ohr vorüberziehen und im Kopf erklingen.

Man muss sich das als ein Wandeln durch Noten und Bezeichnungen vorstellen, das mit jedem erneuten Lesen etwas anderes erfasst, etwas anderes bemerkt. Ihm war der Blick hinter die Noten wichtig, die Spannung zwischen dem Leben des Komponisten, dessen persönlicher Tragik und dem kompositorischen Echo – wie sich beides bedingte und ergänzte.

Respektvoller Umgang

Entscheidend im Umgang mit seinen Musikerfreunden zeigte sich Jansons immer respektvoll. Er war kein Diktator, das hatte er nicht nötig, seine Werkauffassung überzeugte die Musiker des Symphonieorchesters. Sie verstanden, was er bezwecken wollte und sie setzten es um. Mariss Jansons verband seine große künstlerische Präzision mit enormer Hingabe zur Musik. Diese Mischung war es dann auch, die das Verhältnis zwischen Jansons und dem BRSO so einzigartig machte. So entstand eine musikalische Liebesbeziehung, die immer wieder großartige Konzerte bewirkte, viele davon waren außergewöhnliche Ereignisse – Sternstunden.