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ARD-Studio Wien investigativ und crossmedial Scharfe Schüsse an der EU-Außengrenze

Am Anfang war ein Handy-Video, ein verletzter Flüchtling, ein Verdacht: Wird an der bulgarisch-türkischen Grenze scharf auf Flüchtende geschossen? Dann die Recherche: Verifikation, medizinische Gutachten, Vor-Ort-Dreh, Konfrontation der Beschuldigten, Faktenchecks. Das Team des ARD-Studios Wien, gemeinsam mit der internationalen Recherche-Plattform "Lighthouse Reports". Ergebnis: Eine beunruhigende Reportage, crossmedial veröffentlicht.

Von: Anna Tillack und Wolfgang Vichtl/ARD-Studio Wien

Stand: 09.12.2022 | Archiv

Der 19-jährige syrische Flüchtling Abdullah nachdem er an der EU-Außengrenze von scharfer Munition getroffen wurde. | Bild: Lighthouse Reports / ARD-Studio Wien

Bereits letztes Jahr haben Reporterinnen und Reporter des ARD-Studios Südosteuropa in Wien und die niederländische Recherche-Plattform Lighthouse Reports erfolgreich zusammengearbeitet. Damals ging es um illegale sogenannte "Pushbacks" an der kroatisch-bosnischen Grenze. Eine Recherche mit Folgen, die zuständige EU-Kommissarin griff ein, Regeln wurde nachgeschärft, Kroatien war damals sehr bemüht, Teil des Schengen-Raums zu werden, ein Ziel, das das Land inzwischen erreicht hat. Die Reportage am Ende: preisgekrönt.

Wer hat geschossen?

Der Schauplatz diesmal: die bulgarische EU-Außengrenze zur Türkei. Auch Bulgarien drängt in den Schengen-Raum, will seine Grenzen möglichst dichthalten, ist eben erst am Veto Österreichs gescheitert. Hatte die Grenzkontrollen aber verschärft. Auch "Pushbacks" werden den Grenzern vorgeworfen. Nur: diesmal wurde scharf geschossen. Es gibt ein Video, aufgenommen von den Geflüchteten, auf türkischer Seite. Aber: Stimmt das alles so, was wir da sehen? Was war genau passiert? Das zu klären, war die gemeinsame Aufgabe.

Diesmal im Rechercheverbund: Das ARD-Studio Wien, die Teams der Times/London, von Le Monde, Domani (Italien) und Sky News. Sinn der internationalen Zusammenarbeit: Aufgabenteilung, Faktencheck und gemeinsame Veröffentlichung, auf allen Ausspielwegen, diesmal in vier Ländern: im ARD-Netzwerk in Deutschland, in Großbritannien, Frankreich, Italien.

Wichtig: Gute Kontakte im Berichtsgebiet

Anna Tillack, Reporterin im ARD-Studio Südosteuropa, war in der Grenzregion unterwegs: "Wir hatten Gott sei Dank ein Auto mit Vierradantrieb - anders wäre es unmöglich gewesen, auf den Schlammpisten mit den tiefen Schlaglöchern voranzukommen."
Das bulgarische Grenzgebiet zur Türkei ist unwegsames Gelände. Die wenigen Dorfbewohner in den nahezu ausgestorbenen Grenzorten erzählen uns, sie seien selbst noch nie am Zaun gewesen. Was also direkt an der Grenze passiert, bleibt der Öffentlichkeit erstmal verborgen.
So auch die tragische Geschichte vom 3. Oktober dieses Jahres. Ein junger Mann wurde offenbar mit einer Gruppe anderer Geflüchteter von Bulgarien zurückgeschoben in die Türkei, wie er später erzählt. Die Stimmung ist aufgeheizt, Steine fliegen Richtung Grenze, dann fällt ein Schuss. Aufgezeichnet wird der Vorfall vom Handy eines Flüchtlings. Man sieht, wie ein junger Mann in schwarzem T-Shirt getroffen wird. Er strauchelt und bleibt schließlich gekrümmt liegen, schneeweiß im Gesicht, aus einer Wunde am Oberkörper fließt Blut auf den Waldboden.

Wichtig: Alle Fakten checken

Das Video erreicht Journalisten, die sich europaweit vernetzt haben. Sie prüfen, schnellstmöglich, ob es echt ist, ob die Geschichte stimmen kann. Denn der Vorfall, dass ein Schuss mit scharfer Munition abgegeben wird und jemand dabei filmt, ist bisher einmalig. Koordiniert wird die Recherche von der Rechercheplattform Lighthouse Reports.

Gegenstände auf dem Video werden mit der Umgebung abgeglichen, Fahrzeuge und Personen analysiert, Audiodaten ausgewertet. Eine Audio-Forensiker fertigt eine knapp 30-seitige Analyse an, die Rückschlüsse auf Entfernung und Ort des Schützen ermöglichen.

Wir wälzen Unterlagen, werten Daten aus, suchen in der Flüchtlingscommunity nach Verbindungen und Belegen, fragen nach bei Behörden und Experten heran. Am Ende steht eine Recherche, die ein düsteres Bild auf den Zustand an Europas Außengrenzen wirft.

Wichtig: Teamarbeit, international und im Studio

Das besondere an Rechercheprojekten wie diesen ist es, dass alle beteiligten Journalisten ihr Material und ihr Know-How austauschen, sich über jeden Schritt informieren, und schließlich alle gemeinsam am gleichen Tag damit an die Öffentlichkeit gehen. Die Tatsache, dass wir als Studio Wien eine eigene Mitarbeiterin in Bulgarien haben, war ein großer Vorteil: Camelia Ivanova, sprachkundig, ortskundig.

Anna Tillack (links) und Silke Hahne im Schnitt im ARD-Studio Wien.

Für die ARD crossmedial ausgewertet wurde die Recherche im Studio in Wien, in 15 Varianten, alle gut geplant, vom Digital-Team in Wien, ein ausführlicher Publikationsplan zum Abhaken. Danach: Produktion und Live-Auftritte wie am Fließband: Anna Tillack für Tageschau, Tagesthemen, tagesschau.de, BR24-Rundschau und digital, WDRfouryou, tickr.news. Silke Hahne für die ARD-Radios, den Deutschlandfunk. Yvonne Samsarova und Jan Heier für weltspiegel-instagram, tagesschau-social, Twitter. Unterstützt von Günter Stöger, Roland Buzzi (Schnitt), Thomas Wachholz (Mediengestalter) – und Robert Speckner und Robin Geigenscheder haben wir auch eingespannt (FG Multimedia Operating, z. Zt. in Wien).

Crossmedia bedeutet: enge Teamarbeit – neben den tagesaktuellen Themen. War noch was? Na ja, Anna Tillack und Silke Hahne waren zeitgleich für die ARD unterwegs mit dem Bundespräsidenten in Nordmazedonien und Albanien, dann noch ein Westbalkan-Gipfel in Tirana … .


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