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Live-Übertragungen von BR-Klassik Von der Bühne der Bayerischen Staatsoper ins Radio: "Hereinspaziert!"

3.837 Takte Konzentration: Wenn BR-Klassik live aus der Bayerischen Staatsoper sendet, steckt darin wochenlange Vorbereitung – wie bei Alban Bergs "Lulu"

Von: Dr. Felicia Englmann

Stand: 03.07.2015

Tödliche Affäre: Marlis Petersen als Lulu und Bo Skovhus als Dr. Schön in Alban Bergs Oper „Lulu“ im Münchner Nationaltheater | Bild: Winfried Hösl

"Das war ein Stück Arbeit", singt Bariton Bo Skovhus in seiner Rolle als Dr. Schön. Er hat gerade mit seiner Dauergeliebten Lulu Schluss gemacht und auch deren Ehemann ins Bild gesetzt – über die Affaire und deren Ende. In der Tonregie murmelt Toningenieur Klemens Kamp: "Da muss ich unbedingt Rampe 6 aufmachen." Er sagt es mehr zu sich als zu Tonmeister Michael Kempff, der hinter ihm am Notenpult sitzt und die Partitur von Alban Bergs "Lulu" liest. Währenddessen haucht Lulus Ehemann auf der Bühne sein Leben aus. "Das ist grauenvoll", singt Sopranistin Marlis Petersen in der Titelpartie, ganz in weiß gewandet, die Haare streng zurückgesteckt.

Es ist noch eine ganze Woche Zeit bis zur Premiere der Oper an der Bayerischen Staatsoper – doch alle, die am Abend der Live-Übertragung für den BR im Dienst sein werden, stecken schon mittendrin in den Vorbereitungen für die Sendung.

Wenn jetzt die Münchner Festspielpremiere von Richard Strauss‘ "Arabella" live aus dem Nationaltheater übertragen wird, ist auch diese Sendung das Ergebnis wochenlanger Vorbereitung. Eine Opernaufführung live ins Radio zu bringen ist ein komplexes Stück Arbeit – wie das Beispiel der "Lulu"-Premiere zeigt.

"Das ist schon meine dritte ,Lulu‘", erzählt der erfahrene Tonmeister Michael Kempff. Er ist dafür verantwortlich, dass die Musik in optimaler Qualität zu den Hörern kommt. Das Stück kennt er, doch die Inszenierung von Dmitri Tcherniakov ist neu. Sie ist es, auf die Kempff sich einstellen muss, wenn er den Klang optimal einfangen und wiedergeben will. Daher sitzt er, mit Partitur und Notizbuch in der Hand, sogar schon zwei Wochen vor der Premiere in der ersten Klavierhauptprobe. Das aus gläsernen Kammern bestehende Bühnenbild, durch dessen Türen die Solisten auftreten und abgehen, in dem Statisten tanzen und sich räkeln, ist für die Darsteller nicht leicht zu bespielen. Michael Kempff aber ist erfreut: "Für uns ist diese ,Lulu‘-Inszenierung so einfach wie selten eine Opernproduktion. Sie ist akustisch ähnlich einer konzertanten Aufführung." Denn die Solisten singen und agieren fast ausschließlich an der Rampe, also am vorderen Rand der Bühne, auf der freien Fläche vor dem Glaslabyrinth. Dort sind ihren Stimmen leichter aufzunehmen, als wenn sie die gesamte Fläche bespielten.

Mitten im Bühnenbild stehen nun, eine Woche vor der Premiere, Michael Kempff und sein Kollege Klemens Kamp und blicken nach oben in den Schnürboden, den "Himmel" über der Bühne, den die Zuschauer niemals zu sehen bekommen und in dem haushohe Kulissenteile ebenso hängen können wie Regenmaschinen und – Mikrofone. Kamp hat ein Walkie Talkie in der Hand und bespricht mit einem der BR-Mikrofonassistenten, wie nah das Mikro der Szene vom Schnürboden aus kommen darf. "Wir können’s ja nicht ins Bild hängen lassen", sagt er. Auf der Bühne wird derweil geschraubt und gezerrt; das Licht im Glaslabyrinth funktioniert nicht richtig. Feuerwehrmänner lugen von der Seite herein und begutachten die Baustelle. Aus dem Schnürboden senkt sich lautlos an einem mehrere Stockwerke langen Kabel ein Mikrofon. Zu tief? Zu hoch? Kempff und Kamp diskutieren, gehen hin und her, kratzen sich am Kinn, am Kopf. "Jetzt lassen wir’s mal so", funkt Klemens Kamp seinem Kollegen nach oben. Michael Kempff rückt an der Seite der Bühne ein Mikrofonstativ zurecht und richtet die Mikrofonkapsel aus. Er steht jetzt genau in der Flucht eines der Gänge des Labyrinths, in den Bariton Bo Skovhus später hineinsingen wird. Zentimeterarbeit.

Im Orchestergraben ist die Mikrofonierung dagegen fast Routine. An den Wänden befinden sich vorgebohrte Halterungen für Mikros, im gesamten Orchester stehen Stative. Drei Assistenten sind bei dieser Probe im Dienst, etwa 40 Mikros werden es sein, die sie bis zur Aufführung im Bühnenraum und im Orchestergraben platzieren. Jedes von einzelne von ihnen kann Klemens Kamp von seinem Mischpult aus nutzen.

Das Pult steht in der Tonregie, einem kleinen, fensterlosen Studio im Opernhaus. Es ist einer jener vielen grauen, glamourfreien Räume jenseits des Zuschauerbereichs, die zur Infrastruktur des Theaters gehören und unscheinbar wirken, aber für den Betrieb unentbehrlich sind. Von diesem und dem benachbarten Studio aus kommen auch die Livestreams der Staatsoper, hier entstehen Podcasts sowie Video- und Audio-Zuspielungen für moderne Inszenierungen. Die Technik gehört der Bayerischen Staatsoper, der BR darf sie nutzen und bringt für die Livesendungen Mikros und Laptops mit. Auf den Laptops werden Mitschnitte der Aufführungen gespeichert. Michael Kempff hat immer seinen eigenen Kopfhörer dabei – und natürlich die Partitur. Im Fall von "Lulu" sind dies drei großformatige, spiralgebundene Bücher. Auf fast jede Seite hat Kempff bunte Zettel mit Notizen geklebt, und bei jeder Probe werden es mehr. Denn bei jeder Probe kommen neue Finessen dazu, neue Probleme und neue Lösungen. Etwa die Sache mit der Solovioline im ersten Akt. Man hört sie nicht besonders gut, findet Klemens Kamp. Sollte man das Mikro im Graben anders positionieren? "Ein bisschen drehen. Oder noch was hinstellen" murmelt Michael Kempff. "Des kannst vergessen, da ist zu wenig Platz", findet Klemens Kamp. Vielleicht noch ein Mikro an die Wand kleben? Eine Aufgabe für die Assistenten. Während Kempff und Kamp noch Notizen machen, läuft die Probe weiter.

Von dem kleinen Studio aus haben die beiden keine direkte Sicht auf die Bühne. Was dort geschieht, sehen sie nur auf einem kleinen Bildschirm. Ein zweiter zeigt den Dirigenten, in diesem Fall Kirill Petrenko, der jetzt gerade findet, dass bei Takt 990 etwas zu laut gespielt werde, und die Stelle wiederholen lässt. Zeit für die BR-Leute, zu überlegen, wie sie die Jazzband im hinteren Teil der Bühne akustisch präsentieren wollen, denn während diese aufspielt, findet vorne ein musikalischer Dialog der Hauptdarsteller statt. Welcher Sänger wann den Mund öffnet und wessen Mikrofon daher wann ebenfalls zu öffnen ist, ist auf dem Bildschirm kaum zu sehen. Auch deshalb sind die Klebezettel so wichtig. 3.837 Takte hat "Lulu", und jeder einzelne zählt – für die Künstler ebenso wie für das Zweierteam.

Nach der Probe bauen die Mikrofonassistenten die ganze Technik wieder ab. In den kommenden Tagen stehen andere Vorstellungen auf dem Spielplan, die Mikros werden erst wieder zu den nächsten Proben eingerichtet. Bis zu fünfmal Auf- und Abbau erfordert eine einzige Live-Übertragung. Vergessen wird trotzdem nichts. "Wir haben da schon unser System", sagt einer der Assistenten trocken.

Während der Generalprobe, drei Tage vor der Premiere, soll nicht nur auf der Bühne, sondern auch bei der Technik alles zu 100 Prozent sitzen. Die Vorstellung wird bereits scharf mitgeschnitten. Falls bei der Premiere etwas schiefgehen sollte, kann diese Stelle dann mit einem Stück aus dem Generalprobenmitschnitt gekittet werden. Die Aufnahme, die ins BR-Archiv kommt, soll möglichst fehlerfrei sein.

Zur Generalprobe – Freitagnachmittag, bestes Biergartenwetter – ist der Zuschauerraum im Nationaltheater bis auf den letzten Platz besetzt. Es sind Staatsopernmitglieder und deren Angehörige, Freunde des Hauses und auch BR-Mitarbeiter, die am Premierenabend zum Einsatz kommen und sich hier vorbereiten: Moderator Frank Manhold ist da und macht sich, wie schon in anderen Proben, Notizen. Er, sein Kollege Gerhard Späth und Chefsprecherin Barbara Malisch sind seit Jahren für die Opern-Übertragungen des BR zuständig und sprechen ihre Texte nicht nur, sie recherchieren und schreiben sie auch selbst. Volkmar Fischer, Redakteur mit Schwerpunkt Oper, verschafft sich einen Eindruck von der Neuinszenierung. Fridemann Leipold ist da – er ist bei "Lulu" für die Sendungen "Foyer" und "Pausenzeichen" zuständig, das Programm vor der Übertragung und in der Pause. Auch Staatsopern-Intendant Nikolaus Bachler verfolgt die Generalprobe.

Die Spannung steigt. Alle müssen nur noch zweimal schlafen, dann ist Premiere. Am Wochenende – Regenwetter, immerhin –  ­bereiten Leipold und Manhold ihre Moderationen vor.

Der Unaufgeregteste des Premierentages ist Tontechniker Björn Möller. Er holt am Nachmittag den Ü-Wagen aus der Garage am Münchner Funkhaus, fährt ihn zur Oper und lässt die Polizei dann erstmal einen Falschparker abschleppen, der sich auf den Platz des Ü-Wagens gestellt hat. Mit seinem Kollegen Timmy Leis zieht er Kabel über den Gehsteig und prüft die Mikrofone und die Leitung ins Funkhaus. Möllers Jobs der vergangenen 48 Stunden: "Samstag: Allianz-Arena. Sonntag: Meisterfeier am Marienplatz. Montag: Oper." Er lacht. Die Tür des Ü-Wagens lässt er offen, das Wetter ist gar zu schön. Sendungs-Copilot Alex Naumann von BR-Klassik kommt zum Wagen und bespricht mit Möller den Ablauf der Sendung. Für den Fall, dass etwas nicht funktioniert, hat er einem USB-Stick mit Musik von Alban Berg mitgebracht, die dann gesendet werden könnte. "Das muss man einfach haben", sagt Fridemann Leipold, der jetzt seinen Kopf zur Tür des Ü-Wagens hineinsteckt. Er muss gleich weiter, das drahtlose Mikrofon und den Kopfhörer anlegen, mit Timmy Leis einen Soundcheck machen.

Zur selben Zeit wuseln die Mikrofonassistenten durchs Opernhaus. Alles soweit in Ordnung. Michael Kempff und Klemens Kamp beziehen ihre Arbeitsplätze in der Tonmeisterkabine. Die Standleitung von dort ins Funkhaus ist getestet und aktiv. Sprecher Frank Manhold nimmt in der Rundfunkloge Platz, einem winzigen, holzvertäfeltem Kabuff hinter den Parkettplätzen, das freie Sicht zur Bühne bietet und ebenfalls mit der Haustechnik des Theaters verdrahtet ist.

Das Publikum strömt ins Nationaltheater und trifft dort – Fridemann Leipold. Die Sendung "Foyer" kommt vor der Vorstellung live aus dem Opernhaus, das Publikum kann vor Ort zusehen und zuhören, wie Leipold Interviews führt. Damit auch die Hörer im Radio etwas davon mitbekommen, dafür sind jetzt Björn Möller und Alex Naumann im Ü-Wagen zuständig. "Schöne Sendung wünsch ich Dir", sagt Möller noch aus dem Wagen auf den Leipolds Kopfhörer, und dann geht es auch schon los: "Herzlich Willkommen", begrüßt Leipold die Hörer. 30 Minuten live und ohne Probleme, dann gibt Möller zurück ins Funkhaus. Der Rest des Abends wird von dort aus gesteuert. Frank Manhold übernimmt für die einführenden Worte: Er beschreibt den Hörern, was im ersten Akt der Oper passieren wird und wie das Bühnenbild aussieht.

Vom ersten Takt an trägt dann Tonmeister Michael Kempff die Verantwortung. Jetzt lohnt sich jede Notiz. Die Livesendung beginnt: "Hereinspaziert in die Menagerie, Ihr stolzen Herrn, Ihr lebenslust’gen Frauen", singt der Tierbändiger in der ersten Szene. Björn Möller packt seinen Ü-Wagen zusammen und fährt ihn zurück in die Garage. Die "Pausenzeichen"-Sendungen sind aufgezeichnet und werden vom Funkhaus aus eingespielt. Frank Manhold wird zum Schluss kommentieren, welcher Solist den meisten Applaus bekommt. Ist es Marlis Petersen? Nach vier Stunden Opern-Übertragung haucht ihre Lulu auf dem Messer des Mörders Jack ihr Leben aus. Die letzten Worte hat Bariton Bo Skovhus, der in einer Doppelrolle auch den Jack singt. Kurz bevor der Vorhang fällt ruft er erneut aus: "Das war ein Stück Arbeit!"


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