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Chronisches Fatiguesyndrom ME/CFS Wenn Grippe und Erschöpfung nicht weggehen

Man hat für nichts mehr Kraft, kann kaum aufstehen oder arbeiten. Dazu: Muskelschmerzen, Nervenstörungen und Grippesymptome über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Das können Hinweise auf ME/CFS sein - auch bekannt als Chronisches Erschöpfungssyndrom.

Von: Yvonne Maier

Stand: 25.04.2023 09:45 Uhr

Eine Frau liegt erschöpft im Bett. Die Krankheit Myalgische Enzephalomyalgie oder ME/CFS ist auch bekannt als Chronisches Erschöpfungssyndrom. Sie fühlt sich an wie eine jahrelang andauernde Grippe. | Bild: picture alliance / Westend61 | Michela Ravasio

Was ist, wenn die Grippe, der Infekt und das Fieber selbst nach Wochen und Monaten nicht mehr weggehen? Wenn alle Blutwerte scheinbar in Ordnung sind und kein Arzt einem sagen kann, warum man sich so krank fühlt? So ähnlich geht es in Deutschland rund 250.000 bis 300.000 Menschen, darunter etwa 40.000 Kinder und Jugendliche. Sie sind an ME/CFS erkrankt.

Durch die Coronapandemie könnten allerdings noch mehr Betroffenen hinzukommen: "In den nächsten Jahren muss deshalb mit einer Verdopplung der Zahl der ME/CFS-Betroffenen gerechnet werden", so Professorin Carmen Scheibenbogen von der Charité in Berlin in einer Studie vom Juli 2022.

Auslöser für ME/CFS ist häufig eine Infektionskrankheit

Das Kürzel ME steht für "Myalgische Enzephalomyelitis", CFS für "Chronic Fatigue Syndrom", zu deutsch: Gehirn- und Rückenmarkentzündung und Chronisches Fatiguesyndrom. Dass die Krankheit so viele Namen trägt, macht deutlich: Bis heute ist im Detail ungeklärt, was sie genau auslöst und was im Körper der Betroffenen passiert. Sie ist eine kaum erforschte, schwerwiegende neurologische Krankheit, die auch Anteile einer Autoimmunkrankheit hat.

Auslöser ist meistens eine virale Infektionserkrankung, verursacht zum Beispiel durch das Epstein-Barr-Virus, Herpes-, Influenza- oder Coronaviren. Einige Patienten werden nach dem Infekt einfach nicht mehr gesund, bei anderen tritt ME/CFS aber auch zeitversetzt auf. Die ursprüngliche Infektion ist schon wieder vorbei und erst nach einer ungewöhnlichen Belastung, zum Beispiel durch Sport, beginnen die Symptome.

Auch nach einer Covid-19-Erkrankung tritt das Phänomen auf. Risikofaktoren für eine Erkrankung sind auch weitere Fälle in der Familie sowie psychische Belastungen. Die Krankheit ME/CFS verläuft in den meisten Fällen chronisch und schubweise. Langfristig können sich die Symptome stabilisieren, aber mehr als die Hälfte der Betroffenen bleiben dauerhaft arbeitsunfähig. Nur sehr wenige werden wieder vollständig gesund. Für eine gezielte Behandlung gegen ME/CFS gibt es bisher keine zugelassenen Medikamente. Derzeit können nur Symptome wie Infekte, Allergien, Schmerzen und Schlafstörungen behandelt werden.

Belastungsintoleranz als wichtigstes Leitsymptom von ME/CFS

ME/CFS ist eine Multisystemerkrankung, dabei geraten das Immunsystem, das autonome Nervensystem, die Gefäße und der Energiestoffwechsel der Körperzellen durcheinander. Das hat viele Symptome zur Folge. Wichtigstes Phänomen bei der Diagnose: die belastungsabhängige Symptomverschlechterung, der Fachbegriff lautet post-exertional malaise (PEM). In der schlimmeren Form wird dafür auch der Begriff postexertionale neuroimmune Erschöpfung (PENE) verwendet.

Was dabei passiert: Nach einer Alltagsanstrengung verschlechtern sich die Beschwerden. Das kann körperliche Belastung sein, wie Sport, aber auch eine kognitive, emotionale oder sensorische Belastung, wie Lärm oder helles Licht. Meist beginnen die Beschwerden erst nach mehreren Stunden oder am Folgetag und können oft mehrere Tage bis Wochen anhalten.

Im Jahr 2015 wurde deswegen der Begriff "SEID" für das Syndrom vorgeschlagen, Englisch für "systemic exertion intolerance disease", in Deutsch: systemische Belastungsintoleranz-Erkrankung. SEID hat sich als Begriff in der Forschung nicht durchgesetzt, obwohl er das Leitsymptom besser beschreibt als ME/CFS.

ME/CFS: Fatigue als zweites Leitsymptom

Das zweite Leitsymptom, ohne das ME/CFS nicht diagnostiziert werden kann, ist eine ausgeprägte "Fatigue", die mindestens über sechs Monate anhält. Die Begrifflichkeit "Fatigue" kann im Alltag missverständlich sein. Es handelt sich dabei nicht um "Müdigkeit", wie jeder sie erlebt, die zum Beispiel durch erholsamen Schlaf wieder verschwindet. Betroffene beschreiben diesen Zustand als "tired and wired". Einerseits wird das autonome Nervensystem durch Adrenalin aufgeputscht, das zu erhöhtem Herzschlag und Blutdruck führen kann. Andererseits herrscht eine ausgeprägte Kraftlosigkeit in den Muskeln vor, was man zum Beispiel testen kann, indem man die Kraft des Händedrucks misst.

Viele beschreiben ihren Zustand auch mit dem Bild des "leeren Akkus", der auch nach einer Nacht laden nur zu zehn Prozent aufgefüllt ist. Mit dieser kleinen Menge Energie müssen die Betroffenen dann ihren Alltag beschreiten.

Weitere Symptome von ME/CFS

  • Neurologische und kognitive Beschwerden - oft beschrieben als "brain fog" oder "klebriges Denken". Darüber hinaus sind viele Betroffene sehr reizempfindlich, vor allem gegenüber Licht oder Geräuschen.
  • Schwere Schlafstörungen
  • Starke Schmerzen (Kopf-/Muskel-/Gelenkschmerzen)
  • Fehlfunktionen des autonomen Nervensystems. Das wirkt sich auf die Durchblutung aus, kann Schwindel beim Aufstehen hervorrufen (orthostatische Intoleranz), schneller Herzschlag (POTS), Atemnot bei leichter Belastung, Mundtrockenheit, gespannte Waden.
  • Temperaturempfindlichkeit, die Körpertemperatur wird falsch angepasst
  • Fehlregulation des Immunsystems, mit vielen Folgen wie anhaltendem Grippegefühl, Halsschmerzen, häufige Infektionen und neu auftretende Allergien

Unterschiedlicher Schweregrad von ME/CFS

Wer nur leicht betroffen ist, bemerkt an guten Tagen kaum Einschränkungen. Viele ME/CFS-Patienten sind aber dauerhaft ans Haus gebunden, können nicht mehr arbeiten oder zur Schule gehen, sind sozial isoliert.

Sie verbringen ihre Tage im Liegen, in einer reizarmen Umgebung, zum Beispiel im Dunkeln. Einige Patienten sind von künstlicher Ernährung abhängig und auf Pflege angewiesen. ME/CFS gehört zu den Krankheiten mit der niedrigsten Lebensqualität überhaupt.

Frauen sind öfter von ME/CFS betroffen als Männer

Die meisten Betroffenen sind Menschen unter 40 Jahren. Im Jahr 2014 zeigte eine norwegische Studie, dass es zwei Altersschwerpunkte gibt: 10- bis 19-Jährige und 30- bis 39-Jährige. Ein überwiegender Teil der Erkrankten sind Frauen. "Das kann auf das Immunsystem hinweisen, denn wir wissen, dass Frauen häufig ein aktiveres Immunsystem haben und dass dieses aktivere Immunsystem aber eben auch ein Risiko mit sich bringt", sagte Professorin Carmen Scheibenbogen von der Charité Berlin 2022.

Wie man ME/CFS feststellt

Es gibt bis heute keinen Test auf ME/CFS, Ärzte können das Syndrom nur anhand von klinischen Kriterien feststellen. Inzwischen haben sich dabei unter anderem die "Kanadischen Konsenskriterien" (CCC) etabliert, dabei müssen fünf Hauptsymptome und zwei von drei Nebensymptomen seit mindestens sechs Monaten vorliegen.

Darüber hinaus kann erfasst werden, wie schwer erkrankt die Patienten sind und wie sehr sie in ihrer Lebensqualität eingeschränkt sind. Routineuntersuchungen des Blutes oder bildgebende Verfahren bleiben oft unauffällig.

ME/CFS ist kein Burn-out und auch keine Depression

Wichtig bei der Diagnose von ME/CFS ist, andere Krankheiten auszuschließen. So kann Fatigue auch bei Krebserkrankungen, Diabetes, Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) oder Multipler Sklerose auftreten. Wichtig ist auch die Abgrenzung von Burn-out oder Depression, die aber eineutig ist: Menschen mit ME/CFS sind motiviert, aber körperlich leistungsbeschränkt. Sie müssen sich an guten Tagen sogar aktiv bremsen, um keine Belastungsintoleranz auszulösen.

ME/CFS ist keine psychische Krankheit und deshalb nicht zu verwechseln mit Depression oder Burn-out.

Bei Depression oder Burn-out sind die Patienten körperlich leistungsfähig, aber haben einen geringen Antrieb oder eine geringe Motivation. Ihnen geht es nach Sport oft besser, der Zustand von ME/CFS-Patienten ist nach Sport dagegen oft verschlechtert.

Bei ME/CFS können nur Symptome behandelt werden

Momentan gibt es kein Medikament, mit dem ME/CFS behandelt oder gar geheilt werden kann. Alle Behandlungsansätze zielen darauf ab, dass die Krankheit nicht schlimmer wird und dass begleitende Symptome wie zum Beispiel Schlafstörungen, Schmerzen oder ein erhöhter Herzschlag gelindert werden.

Wichtigste Therapie ist dabei das sogenannte "Pacing", also ein vorausschauendes Energiemanagement. Die eigenen Belastungsgrenzen sollen dabei nicht überschritten werden, es müssen ausreichend Pausen gemacht werden. Dabei helfen auch Entspannungstechniken, aber auch ein Gehörschutz oder Schlafmasken.

Trotz Pacing können viele Betroffene nicht verhindern, dass sich die Krankheit verschlimmert, weil auch normale Tätigkeiten wie Essen, Waschen oder auch schon leichte Bewegungen einen "Crash" auslösen können.

ME/CFS wird oft nicht erkannt und ernst genommen

ME/CFS ist in Deutschland zurzeit auch bei Ärzten noch nicht ausreichend bekannt. Bis in die frühen 2000er-Jahre hinein wurde ME/CFS als psychische Krankheit definiert, als "Hysterie" oder "Yuppie-Grippe" abgetan. Erst in den letzten Jahren - angetrieben durch das Engagement von Betroffenen und medizintechnischen Fortschritten - hat sich einiges bewegt. Dennoch, die Situation der Erkrankten ist erschreckend.

"Patienten, die an der Erkrankung leiden, erhalten oft keine medizinische oder auch sozial adäquate Versorgung."

Sebastian Musch, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V.

Etwa ein Viertel der ME/CFS-Betroffenen können das Haus oder ihr Bett kaum noch verlassen.

Es gibt zum Beispiel deutschlandweit nur zwei auf ME/CFS spezialisierte Ambulanzen: Das Fatigue Zentrum der Charité - Universitätsmedizin Berlin für Betroffene ab 18 Jahren sowie für Kinder und Jugendliche das Chronische Fatigue Centrum der Technischen Universität München in der Kinderklinik Schwabing. München Klinik Schwabing. Hier forscht Professorin Uta Behrends auch zu Long- und Post-Covid. Die beiden Expertinnen, Professorin Scheibenbogen und Professorin Behrends, haben unter anderem auch das Kapitel zu ME/CFS in der aktuellen Fassung der S3-Leitlinie "Müdigkeit" der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin bearbeitet. Es enthält Empfehlungen für die Versorgung der Patienten in der allgemeinmedizinischen Praxis. Zum Beispiel sollten aktivierende Maßnahmen in der Behandlung nicht angewendet werden.

Förderungen für die Erforschung von ME/CFS in Deutschland

Die Ampelregierung hat auf Druck von Patientenorganisationen und einer erfolgreichen Petition das Thema ME/CFS mit in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen, das erste Mal in der Geschichte Deutschland. Auf Druck von Patientenorganisationen und einer erfolgreichen Petition hat die Ampelregierung das Thema ME/CFS mit in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen, das erste Mal in der Geschichte Deutschland. Es soll für die Versorgung der Langzeitfolgen von Covid-19 sowie für ME/CFS ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen geschaffen werden. Im Januar 2023 fand außerdem die erste Bundestagsdebatte über ME/CFS überhaupt statt.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert aktuell ein interdisziplinäres Team unter der Leitung der Charité Berlin mit rund zwei Millionen Euro, das die Ursachen und Krankheitsmechanismen von ME/CFS erforschen soll. Außerdem hat das BMBF der Charité Berlin rückwirkend zum 1. Oktober 2022 rund zehn Millionen Euro für die Therapieforschung im Rahmen einer Nationalen Klinischen Studiengruppe zur Verfügung gestellt, um klinische Studien mit Arzneimitteln zur Behandlung von PCS und ME/CFS durchzuführen. Die Forschungen haben bereits begonnen. Darüber hinaus werden ein ME/CFS-Register und eine Biobank aufgebaut, geleitet von der TU München.
An der Uni Erlangen soll in weiteren Studien erforscht werden, ob das experimentelle Medikament BC 007 bei Post Covid und ME/CFS helfen kann.

Aktionstag am 12. Mai für ME/CFS-Betroffene

Demonstration der ME/CFS-Initiative "Millions Missing"

Die Initiative "Millions Missing Deutschland", zu deutsch "Millionen Verschwundene" setzt sich jedes Jahr am Aktionstag am 12. Mai für ME/CFS-Betroffene ein. Dabei schicken Betroffene und Angehörige zum Beispiel kurze Nachrichten, zusammen mit einem Paar Schuhe von den Erkrankten, die dann auf Grünflächen oder Plätzen ausgestellt werden. So sollen die, die in ihren Wohn- und Schlafzimmern gefangen sind, wieder ein Gesicht bekommen. Das Motto: "Can you see me now?" - "Könnt ihr mich jetzt sehen?"

Myalgische Enzephalomyelitis ME/CFS: eine unterschätzte Krankheit

Die Experten sind sich einig: Gesellschaft und Politik sind es den Betroffenen schuldig, sie endlich ernst zu nehmen, auch wenn das noch viel Geld kosten wird. ME/CFS ist keine seltene Krankheit, bekommt aber nur einen Bruchteil der Förderung, die zum Beispiel die HIV-Forschung bekommt, aber in Deutschland weniger Menschen betrifft. Darüber hinaus haben Menschen mit ME/CFS mit die niedrigste Lebensqualität von Patienten mit chronischen Krankheiten.

Bis heute gibt es weltweit keine wirksame Therapie, um die Krankheit zu behandeln oder gar zu heilen. Die Folgen durch die jahrzehntelange Tatenlosigkeit in Forschung und Therapie haben durch die Corona-Pandemie nochmal an Bedeutung gewonnen. Denn durch Covid-19 kann es nach der Erkrankung auch zu ME/CFS kommen.

Mehr Wissen: Quellen und Sendungen zu ME/CFS


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