Tierversuche Pro und Contra Unverzichtbare Experimente oder durch Alternativen ersetzbar?

Von: Delia Friess

Stand: 08.02.2024

In Deutschland wurden 2022 knapp 1,7 Millionen Tiere bei Versuchen eingesetzt. Warum gibt es Tierversuche? Sind Versuche mit Tieren noch zeitgemäß oder lassen sie sich durch andere Methoden ersetzen?

Tierversuche: Ein Affe im Labor hinter Gittern. Mäuse, Ratten, Affen, Fische, Schafe, Schweine, Katzen und Hunde werden in Tierversuchen eingesetzt. An ihnen werden Medikamente, Impfstoffe und Chemikalien getestet. Labortiere sind in der Medizin aber auch wichtig, um Therapien wie Organtransplantationen auszuprobieren. Tierschützer kritisieren, dass zu wenig an alternativen Methoden geforscht wird. | Bild: picture-alliance/dpa

Versuche mit Labortieren: Warum werden Tierversuche überhaupt durchgeführt?

Eine weiße Maus sitzt auf einer Hand in einem blauen Handschuh. Mäuse, Ratten, Affen, Fische, Schafe, Schweine, Katzen und Hunde werden in Tierversuchen eingesetzt. An ihnen werden Medikamente, Impfstoffe und Chemikalien getestet. Labortiere sind in der Medizin aber auch wichtig, um Therapien wie Organtransplantationen auszuprobieren. Tierschützer kritisieren, dass zu wenig an alternativen Methoden geforscht wird. | Bild: picture-alliance/dpa

Arzneimittel und Impfstoffe, aber auch Chemikalien in Haushaltsmitteln, Farben und Pestizide werden an Versuchstieren getestet.

Affen, Mäuse, Ratten, Schafe, Meerschweinchen, Hunde und Katzen: Das sind Tiere, die in Tierversuchen eingesetzt werden. Die Bilder aus den Laboren sehen meist grausam aus. Gegner von Tierversuchen halten Tierversuche für Tierquälerei. Befürworter halten Tierversuche für unumgänglich und betonen den Nutzen für die menschliche Gesundheit. Wusstet ihr zum Beispiel, dass mithilfe von Tierversuchen Impfstoffe gegen Krankheiten wie Polio (Kinderlähmung) und für Therapien bei Krebs und HIV entwickelt wurden? Auch die Grundlagenforschung für die mRNA-Impfstoffe, die gegen das Coronavirus eingesetzt werden, beruht auf Versuchen mit Tieren im Labor. Tierversuche werden dazu genutzt, Krankheitsverläufe, Verhalten von Lebewesen und biologische Prozesse besser zu verstehen. Die Haltung von Tierversuchsbefürwortern ist, dass Versuchstiere dabei helfen, schwere Nebenwirkungen von Arzneimitteln auszuschließen. Auch Chemikalien in Haushaltsmitteln, Farben und Pestizide werden an Tieren auf ihre Verträglichkeit getestet.

Aus ethischen Gründen wird über Tierversuche erbittert gestritten: Haben wir überhaupt das Recht, unser Leben über das Leben von Tieren zu stellen, um die Gesundheit von Menschen zu schützen? Oder ist das sogar unsere Pflicht? Tun wir genug, um das Leiden der Tiere bei den Experimenten zu reduzieren? Sind Tierversuche überhaupt noch zeitgemäß? Antworten auf diese Fragen bekommt ihr hier. Wir stellen euch auch die Argumente der Tierversuchsgegner und -befürworter vor, damit ihr euch selbst ein Bild machen könnt.

Anschauen: Kontroverse um Experimente mit Tieren

Tierversuche für Medizin, Chemikalien und Kosmetik: Welche Tierversuche gibt es in Deutschland?

Zahl der Versuchstiere: Mäuse, Ratten, Meerschweinchen, Vögel, Kaninchen, Fische, Primaten, also Affen, Schafe, Schweine, Hunde und Katzen werden in Tierversuchen in Deutschland eingesetzt. Laut der jährlichen Erhebung des Bundesamtes für Risikobewertung (BfR) geht die Anzahl der Versuchstiere in Deutschland seit 2020 zurück: Knapp 1,7 Millionen Tiere wurden 2022 in Tierversuchen eingesetzt. Zählt man auch getötete Tiere hinzu, kommt man auf rund 4,1 Millionen Tiere, die im Kontext von Tierversuchen in Deutschland erfasst wurden. Der Großteil der Tiere wurde erstmalig bei einem Tierversuch eingesetzt. Rund die Hälfte der Tierversuche wurde für die Grundlagenforschung durchgeführt, das heißt, zur Erforschung von biologischen Abläufen oder Funktionsweisen im Körper, die die Voraussetzungen sind, Erkrankungen zu verstehen.

An Tieren wurden nicht nur Medikamente und Impfstoffe ausprobiert, sondern auch Dialysetechniken, Bypass-Operationen und neue Gelenke oder Zahnimplantate. Zudem werden Tieren artfremde Organe eingepflanzt, zum Beispiel einem Affen ein Schweineherz. Dabei testet man, ob tierische Organe auch für den Menschen tauglich wären. Und auch zu Ausbildungszwecken, beispielsweise an Universitäten, werden Experimente mit Tieren durchgeführt.

Mäuse und Fische kommen am häufigsten bei Tierversuchen zum Einsatz, Hunde und Katzen hingegen seltener (2.873 Hunden und 538 Katzen im Jahr 2022). Hunde und Katzen gelten als Versuchstiere, wenn an ihnen Substanzen im Labor getestet werden. Sie werden außerdem als Versuchstier erfasst, wenn in Tierkliniken neue Verfahren an kranken Tieren erprobt werden. Im Jahr 2022 wurden etwa 1.978 nichtmenschliche Primaten erstmals in Tierversuchen verwendet. Bei Primaten wird zwischen Halbaffen und Affen unterschieden, zu denen auch menschliche Primaten zählen. Menschenaffen werden in Deutschland seit 1992 nicht mehr eingesetzt.

Berichte der EU-Kommission legen in regelmäßigen Abständen Versuchstierzahlen offen. Die Statistiken lassen allerdings kaum Vergleiche zu Vorjahreszahlen zu und können von den nationalen Zahlen abweichen: Die Versuchstiere werden nach unterschiedlichen Kriterien erfasst und seit 2018 werden auch Daten des Nicht-EU-Staates Norwegen hinzugezählt.

Genveränderte Tiere: An genetisch veränderten Tieren, darunter hauptsächlich Mäuse und Fische, werden Krankheiten wie Krebs, Diabetes, Alzheimer und Infektionen erforscht. Früher transplantierte man einen Tumor in ein Tier, um dann eine Therapie zu testen. Das wird inzwischen nicht mehr gemacht. Durch Genmanipulation wachsen in Tieren Tumoren von selbst.

Roman Stilling ist Neurobiologe und Referent von "Tierversuche verstehen", einer Initiative der deutschen Wissenschaft, koordiniert von der Allianz der Wissenschaftsorganisationen. Er hat an Mäusen zu Gedächtnis und Demenz geforscht. Genmanipulierte Mäuse wurden darauf getestet, wie sie mit oder ohne ein bestimmtes Protein ein Wasserlabyrinth durchlaufen können. Dadurch konnte der Wissenschaftler Rückschlüsse auf den Transfer vom Kurzzeit- auf das Langzeitgedächtnis im Gehirn ziehen.

EU-Richtlinie: Bevor ein Arzneimittel oder ein Impfstoff in der EU zugelassen werden kann, muss es verschiedene Phasen durchlaufen. In vorklinischen Studien müssen die Substanzen an zwei Tierarten auf schwere Nebenwirkungen getestet werden. Erst dann können sie in klinischen Studien an Menschen geprüft werden. Wurden die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit bestätigt, kann das Arzneimittel auf den Markt kommen. Wurde ein Arzneimittel außerhalb der EU getestet, werden die Ergebnisse von der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) nicht anerkannt. Bei chemischen Produkten können anerkannte Alternativmethoden Tierversuche ersetzen.

Die rechtlichen Standards von Tierversuchen sind im EU-Recht durch die EU-Versuchstierrichtlinie 63 von 2010 verankert. Die Rechte von Tieren wurden durch die neue Richtlinie gestärkt und die Vorgaben für Tierversuche verschärft. Die EU schreibt unter anderem vor, dass die Methode gewählt werden muss, "die die zufriedenstellendsten Ergebnisse liefert und am wenigsten Schmerzen, Leiden oder Ängste verursacht". Auch der Tod der Tiere sollte möglichst schmerzfrei sein. In Deutschland gibt es seit 2013 die Tierschutz-Versuchstierverordnung, die die EU-Richtlinie umsetzen soll.

Jeder Tierversuch in Deutschland muss beantragt und begründet werden, weshalb der Versuch mit einer bestimmten Tierart und nicht mit anderen Methoden durchgeführt werden kann. Die Belastung der Tiere wird in Kategorien nach Schweregrad eingeteilt und beurteilt. In Tierversuchen dürfen zudem nur gezüchtete Tiere eingesetzt werden. Das bedeutet, Tiere für Versuchslabore dürfen keine streunenden Tiere sein oder aus freier Wildbahn stammen, denn das würde den Artenschutz gefährden. Die Gewöhnung der Tiere an das Laborleben wird außerdem als zu grausam eingestuft. Tierversuche dürfen, je nach Schweregrad, nur von Tierärzten, Medizinern, Zahnmedizinern, Naturwissenschaftler oder ausgebildetem Personal mit Fachwissen durchgeführt werden.

Ab 2018 leitete die EU-Kommission ein Vertragverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen mangelhafter Umsetzung der EU-Versuchstierrichtlinie ein. Die EU-Kommission sah die EU-Richtlinie nicht ausreichend im deutschen Recht umgesetzt. Konkret wurden die fehlende Sachkunde der Versuchsteilnehmer sowie fehlende Tierärzte und Inspektionen bei Versuchen bemängelt. Gar nicht umgesetzt sah die Kommission Vorgaben zur Züchtung von Affen: Affen in Tierversuchen sollen möglichst Nachkommen von Tieren sein, die bereits in Gefangenschaft leben. 2022 wurde das Verfahren der EU gegen Deutschland eingestellt.

Tierversuche für Kosmetikartikel: Seit 2013 sind Tierversuche für kosmetische Produkte in der EU verboten. Durch das Gesetz dürfen auch Nicht-EU-Staaten nur Kosmetikprodukte in der EU verkaufen, wenn diese die EU-Standards erfüllen. Der Deutsche Tierschutzbund e.V. kritisiert jedoch rechtliche Schlupflöcher: Werden getestete Substanzen in medizinischen oder chemikalischen Produkten verwendet, dürfen sie auch in Kosmetikartikeln enthalten sein. Beispielsweise dürfen Produkte mit Botox noch in Tierversuchen getestet werden. Botox wird nicht nur in der Kosmetikindustrie, sondern auch zu medizinischen Zwecken eingesetzt.
Roman Stilling von der Initiative "Tierversuche verstehen" sagt hingegen, Botox sei eines der stärksten Gifte überhaupt. Es sei daher sehr wichtig, Produkte mit Botox vor der Anwendung an Menschen ausreichend zu testen - auch in Tierversuchen, solange es keine Alternative dazu gibt.

Video: Welche Kritik gibt es an Tierversuchen?

Lebensbedingungen von Versuchstieren: Was passiert mit den Tieren bei Tierversuchen?

Ein Affe wird im Labor für einen Versuch fixiert. Mäuse, Ratten, Affen, Fische, Schafe, Schweine, Katzen und Hunde werden in Tierversuchen eingesetzt. An ihnen werden Medikamente, Impfstoffe und Chemikalien getestet. Labortiere sind in der Medizin aber auch wichtig, um Therapien wie Organtransplantationen auszuprobieren. Tierschützer kritisieren, dass zu wenig an alternativen Methoden geforscht wird. | Bild: picture-alliance/dpa

Ein Affe wird für einen Tierversuch fixiert. In der EU dürfen nur gezüchtete Primaten in Tierversuchen eingesetzt werden.

Affen werden seltener als Ratten und Mäuse in Tierversuchen eingesetzt, weil die Haltung von Affen aufwendiger und teurer ist und weniger oft genehmigt wird. Aber woher kommen die gezüchteten Tiere im Labor und wie leben sie? Etwa 80 Prozent der Versuchsaffen stammen von Zuchtstationen in Asien und werden an forschende Unternehmen in der EU verkauft. Forschungszentren wie das Deutsche Primaten-Zentrum in Göttingen GmbH führen selbst Tierversuche durch und stellen gezüchtete Affen für die akademische Forschung zur Verfügung. "Bis sie ins Labor kommen, leben Affen dort unter Zoo ähnlichen Bedingungen", argumentiert Roman Stilling von "Tierversuche verstehen". Im Labor seien die Lebensbedingungen beengter. Für die Versuche dürfen die Tiere auch festgebunden werden. Die Labore werden regelmäßig unangekündigt überprüft, sagt Stilling von "Tierversuche verstehen". Dass es den Tieren im Labor gut geht, sei die Voraussetzung für erfolgreiche Forschung, da sonst die Ergebnisse nicht aussagekräftig genug seien. "Für Tierversuche benötigen wir gesunde Tiere, die nicht gestresst sind und denen es gut geht", betont der Wissenschaftler. Affen beispielsweise werden durch Computerspiele gefordert und erlebten deshalb keine Langeweile im Labor.

Tierschützer widersprechen diesen Argumenten: "Die Tiere leben nicht unter artgerechten Bedingungen und ihnen geht es nicht gut, nur weil sie von keinem Raubtier gefressen werden", sagt Tilo Weber, Biologe und Fachreferent für Alternativmethoden zu Tierversuchen beim Deutschen Tierschutzbund e.V. . Auch nach der Einstellung des EU-Vertragsverletzungsverfahrens kritisieren Tierschützer noch immer mangelnde Kontrollmechanismen: Forscher müssten zwar begründen, warum ein Tierversuch wissenschaftlich plausibel ist, aber auch die ethische Bewertung obliege den Forschern selbst. Wenn die Behörde dem Tierversuch wegen ethischer Bedenken widerspricht, überwiegt im Falle eines Rechtsstreits der wissenschaftliche Nutzen eines Versuchs, kritisiert Weber. Forscher könnten aber weniger objektiv bewerten, ob ihre eigenen Tierversuche ethisch vertretbar sind.

Nach den Versuchen wird ein Großteil der Versuchstiere getötet. In den meisten Fällen auch deshalb, weil das Gewebe ebenfalls untersucht wird. Tierschützer kritisieren, dass Tiere, die für die Forschung gar nicht eingesetzt werden, ebenfalls getötet werden: Rund 2,5 Millionen Tiere starben 2021 deshalb, weil sie für die Versuche zum Beispiel das falsche Geschlecht oder die falschen Gene haben. Dafür gibt es jedoch auch Gründe: Die genmanipulierten Tiere können zum Schutz der Artenvielfalt nicht einfach ausgewildert oder an Zootiere verfüttert werden. Die Haltung von überschüssigen Labortieren sei zeit- und kostenintensiv, meint Stilling von "Tierversuche verstehen". Pharmaunternehmen und Tierschutzvereine vermitteln jedoch Hunde und Katzen nach Tierversuchen an Privatpersonen.

Zitat: Niemand macht Tierversuche gerne

Eine weiße Ratte schaut auf einen Monitor. Mäuse, Ratten, Affen, Fische, Schafe, Schweine, Katzen und Hunde werden in Tierversuchen eingesetzt. An ihnen werden Medikamente, Impfstoffe und Chemikalien getestet. Labortiere sind in der Medizin aber auch wichtig, um Therapien wie Organtransplantationen auszuprobieren. Tierschützer kritisieren, dass zu wenig an alternativen Methoden geforscht wird. | Bild: picture-alliance/dpa

"Es geht nicht darum, Werbung für Tierversuche zu machen. Niemand macht Tierversuche gerne. Die Motivation ist, neue Erkenntnisse zur Verbesserung der Gesundheit von Mensch und Tier zu gewinnen. Das langfristige Ziel ist, Tierversuche durch Methoden zu ersetzen, die die gleichen Erkenntnisse bringen. Tierversuche haben aber eine hohe Treffsicherheit hinsichtlich schwerer Nebenwirkungen und verhindern, dass Menschen in klinischen Studien zu Schaden kommen. Wir werden auch in Zukunft nicht ganz auf Tierversuche verzichten können. Deshalb sollten Versuchstiere bestmöglichst behandelt und genutzt werden."

Roman Stilling, Neurobiologe und Referent der Initiative 'Tierversuche verstehen'

Tierversuche und Tierschutz: Sind Tierversuche ethisch vertretbar?

Eine Medikamentenkapsel neben einer weißen Ratte. Mäuse, Ratten, Affen, Fische, Schafe, Schweine, Katzen und Hunde werden in Tierversuchen eingesetzt. An ihnen werden Medikamente, Impfstoffe und Chemikalien getestet. Labortiere sind in der Medizin aber auch wichtig, um Therapien wie Organtransplantationen auszuprobieren. Tierschützer kritisieren, dass zu wenig an alternativen Methoden geforscht wird. | Bild: picture-alliance/dpa

In der Tierversuchsethik untersuchen Wissenschaftler das Verhältnis von Nutzen und Schaden bei Tierversuchen.

Sollen Tiere zugunsten der menschlichen Gesundheit geopfert werden? Wiegt der Nutzen von Tierversuchen den Schaden auf? Welche Experimente mit Tieren sind Tierquälerei? Wie gehen wir mit den Tieren in Versuchslaboren um? Diese Fragestellungen untersucht der Medizinethiker Marcel Mertz von der Medizinischen Hochschule Hannover. In der Tierversuchsethik unterscheidet man zwischen verschiedenen Positionen, erklärt der Wissenschaftler:

Anthropozentrismus: Nur Menschen kommt unmittelbar ein moralischer Schutz zu. Tiere können zwar auch geschützt werden, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern nur, weil das im Interesse des Menschen ist. Menschliche Interessen wiegen mehr als die Interessen von Tieren.

Biozentrismus: Jedes Leben soll gleich viel Wert sein. Alle Lebewesen, auch Tiere, Pflanzen, Pilze und Bakterien, haben den gleichen moralischen Wert. Allerdings gibt es auch im Biozentrismus eine Richtung, die Abstufungen zwischen den Lebewesen zulässt.

Pathozentrismus: Tieren wird, unabhängig von menschlichen Interessen, ein moralischer Wert zugesprochen, da sie genauso wie Menschen leiden können. Meist wird die Leidensfähigkeit von Tieren aber als niedriger eingestuft als die von Menschen. Trotz grundsätzlicher Leidensfähigkeit der Versuchstiere werden nicht die gleichen Maßstäbe wie bei Versuchen mit Menschen angelegt. Eine Abwägung, die zugunsten menschlicher Interessen ausfällt, bleibt daher möglich und kann ethisch verteidigt werden. Auch zwischen verschiedenen Tierarten werden Unterschiede gemacht, weil man von einem unterschiedlichen Schmerzempfinden ausgeht. Schimpansen gelten beispielsweise als schmerzempfindlicher als Fische und Krebstiere. Welche Tierarten wie viel Schmerz und Emotionen empfinden können, ist aber noch nicht gänzlich erforscht, sagt Mertz.

In der EU-Richtlinie sind hauptsächlich Positionen des "Pathozentrismus" zu finden. Der Richtlinie liegen auch die international anerkannten Grundsätze der "3Vs" zugrunde: der Vermeidung, Verminderung und Verbesserung von Tierversuchen (auf Englisch "3Rs: replacement, reduction and refinement"). Dahinter verbirgt sich der Ansatz: Ist eine Alternativmethode, die den Tierversuch hinreichend ersetzen kann, verfügbar, so muss diese auch verwendet werden. Ob Tierversuche durch geeignete Alternativen ersetzt werden können, wird in der Wissenschaft unterschiedlich eingeschätzt.

Auch in der Tierversuchsethik wird diskutiert, ob die Kontrollmechanismen von Tierversuchen ausreichend sind. Tierversuche müssen zwar im Vorfeld begründet werden, es besteht aber nur für Tierversuche mit Affen oder für Versuche mit besonderem Schweregrad die Pflicht, die Versuche vor allem hinsichtlich des Nutzens und Schadens rückblickend zu bewerten, erklärt der Medizinethiker. Tierschutzorganisationen kritisieren, dass das tatsächliche Verhältnis von Nutzen und Schaden in Deutschland für den Großteil der Tierversuche, beispielsweise für Versuche mit Mäusen, nicht genau erfasst wird. Dies könne auch den Anreiz fördern, Projekte als moderater zu verkaufen, um eine Bewertung des Versuchs im Nachhinein zu umgehen. Die Auswertung von Tierversuchen im Nachhinein könnte aber sowohl unnötige Tierversuche verhindern, als auch die Tierversuche selbst verbessern - beispielsweise durch den Einsatz eines anderen Versuchstiers.

Zitat: Für eine differenzierte Betrachtung von Tierversuchen

Ein Wissenschaftler hält zwei Ampullen Impfstoffe nebeneinander. Mäuse, Ratten, Affen, Fische, Schafe, Schweine, Katzen und Hunde werden in Tierversuchen eingesetzt. An ihnen werden Medikamente, Impfstoffe und Chemikalien getestet. Labortiere sind in der Medizin aber auch wichtig, um Therapien wie Organtransplantationen auszuprobieren.  Tierschützer kritisieren, dass zu wenig an alternativen Methoden geforscht wird. | Bild: picture-alliance/dpa

"Über Tierversuche sollte nicht pauschalisiert geurteilt werden. Stattdessen ist eine differenzierte Betrachtung notwendig. Wenn man aus ethischen Gründen Tierversuche ablehnt, ändert das erstmal nichts an der Realität, dass wir gegenwärtig Tierversuche durchführen und dies auch weiterhin tun müssen - auch weil zu wenig in die Erforschung von Alternativen investiert wird. Man wird der ethischen Verantwortung auch nicht gerecht, wenn man sich mit dem Ist-Zustand nicht beschäftigt. Denn wir können durchaus etwas an den Stellschrauben drehen, zum Beispiel die Anzahl der Versuchstiere und die Belastung für die Tiere reduzieren. Man kann also Tierversuche verbessern wollen, auch dann, wenn man die Abschaffung von Tierversuchen als langfristiges Ziel verfolgt - das ist kein Widerspruch."

Marcel Mertz, Leitung AG Forschungs- / Public Health Ethik & Methodologie, Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Video: Können Tierversuche ersetzt werden?

Alternativen zu Tierversuchen: Welche Methoden könnten Experimente mit Tieren ersetzen?

Hoffnung auf Ersatz für Tierversuche machen Forschern Multi-Organ-Chips, wie sie zum Beispiel an der TU Berlin entwickelt werden. Mäuse, Ratten, Affen, Fische, Schafe, Schweine, Katzen und Hunde werden in Tierversuchen eingesetzt. An ihnen werden Medikamente, Impfstoffe und Chemikalien getestet. Labortiere sind in der Medizin aber auch wichtig, um Therapien wie Organtransplantationen auszuprobieren. Tierschützer kritisieren, dass zu wenig an alternativen Methoden geforscht wird. | Bild: Alexandra Lorenz/TU Berlin Medizinische Biotechnologie /dpa

Nachgebildete Organe, sogenannte Organoide, und Multi-Organ-Chips könnten Tierversuche punktuell und langfristig ganz ersetzen.

Es gibt Methoden, die Potenzial haben, Tierversuche zu ersetzen. Dazu zählen menschliche Stammzellen, die im In-Vitro-Verfahren gezüchtet werden und aus denen Organe, sogenannte Organoide, nachgebildet werden. Der Biologe Andreas Kurtz forscht am BIH Center for Regenerative Therapies (BCRT) der Charité Berlin zu solchen Stammzellen und Organoiden. Der Wissenschaftler ist zudem Leiter des Registers für Embryonale Pluripotente Stammzellen und Mitglied des Bioethics Councils 2023 des Pharmaunternehmens Bayer. Es sei bereits möglich, einzelne Organe wie Nieren oder Leber als Miniaturform nachzubilden und Prozesse in diesen Organoiden nachzuvollziehen. Dadurch können Substanzen direkt an menschlichem Gewebe getestet werden. Außerdem könnten Therapien personalisiert entwickelt und direkt an einen Patienten angepasst werden: Dem Patient wird Blut oder Gewebe entnommen und aus den daraus hergestellten sogenannten "pluripotenten Stammzellen" kann dann ein Organoid entwickelt werden. Künftig will man jede Zelle des menschlichen Körpers auf diese Weise generieren können und Zwillingsorgane in Miniaturform schaffen. Für Organe wie Nieren oder Leber funktioniert dies bereits.

Allerdings lassen Organoide bisher nur Rückschlüsse über Prozesse in einem Organ zu, nicht aber über das Zusammenspiel von mehreren Organen im Blutkreislauf und dem Immunsystem, erläutert der Wissenschaftler. Das sei aber beispielsweise in der Immunologie für die Entwicklung von Impfstoffen notwendig. Forscher arbeiten daran, diese Probleme durch sogenannte Multi-Organ-Chips, in denen auch das Herz-Kreislauf-System nachgebildet wird, zu lösen. Derzeit ist allerdings nur eine Nachbildung von bis zu vier Organen möglich. Tests mit Organoiden könnten Tierversuche bereits in wenigen Jahren zumindest punktuell ersetzen und sogar genauer sein, sagt Andreas Kurtz von der Charité Berlin. Ob man langfristig ganz auf Tierversuche verzichten könne, hänge jedoch von der weiteren Forschung und Entwicklung ab, sagt der Wissenschaftler. Langfristig sei die Forschung an Organoiden auch für Organtransplantationen relevant.

Das große Problem sei, dass die Forschung an Organoiden nicht ausreichend gefördert wird, sagt Tilo Weber vom Deutschen Tierschutzbund e.V. "Werden Daten aus diesem Forschungsbereich gewonnen, würden sie im Anschluss mit Daten aus Tierversuchen abgeglichen werden. Die Arbeit mit menschlichem Gewebe sei jedoch viel genauer und sicherer", ergänzt Weber. So kam eine Studie der Technischen Universität Berlin aus dem Jahr 2021 zu dem Ergebnis, dass in bestimmten Organoiden auch die Folgen von eindringenden Krankheitserregern untersucht werden können. Eine Studie eines privaten Biotechnologieunternehmens vom Dezember 2022 kam zu dem Schluss, dass Leber-Chips zuverlässiger als Tierversuche sind: Der Chip entdeckte sieben von acht Medikamenten, die sich in klinischen Studien als leberschädigend erwiesen, obwohl sie nach Tierversuchen als unbedenklich eingestuft wurden.

Weitere Alternativen zu Tierversuchen sind Computersimulationen mithilfe von künstlicher Intelligenz. Diese können zum Beispiel Chemikalien darauf testen, ob sie der Umwelt schaden. Dabei kann auf schon erhobene Daten aus Tierversuchen zurückgegriffen werden. Weil ökologische Systeme komplex sind, können sie sogar bessere Ergebnisse für den Umweltschutz erzielen als Versuche an einzelnen Tierarten, erläutert der Biologe Tilo Weber vom Deutschen Tierschutzbund e.V. .

Zitat: Tierversuche zu ersetzen, ist möglich

Eine Katze neben einer Justizia-Figur. Mäuse, Ratten, Affen, Fische, Schafe, Schweine, Katzen und Hunde werden in Tierversuchen eingesetzt. An ihnen werden Medikamente, Impfstoffe und Chemikalien getestet. Labortiere sind in der Medizin aber auch wichtig, um Therapien wie Organtransplantationen auszuprobieren. Tierschützer kritisieren, dass zu wenig an alternativen Methoden geforscht wird. | Bild: picture-alliance/dpa

"Es ist möglich, Tierversuche zu ersetzen. Allerdings fehlen der politische Wille und das gesellschaftliche Bewusstsein. Die Wissenschaft ist innovativ genug, um Probleme zu lösen. Wir müssen Anreize wie Subventionen für Unternehmen und einen Ausstiegsplan schaffen, damit mehr in alternative Methoden investiert wird und Tierversuche in den nächsten Jahren abgeschafft werden können."

Tilo Weber, Biologe, Fachreferent für Alternativmethoden zu Tierversuchen an der Akademie für Tierschutz beim Deutschen Tierschutzbund e. V.

Tierversuche: Pro und Contra Experimente mit Tieren

Pro:

  • Tierversuche haben eine hohe Treffsicherheit, schwere Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten von Arzneimitteln, Impfstoffen und Chemikalien vor klinischen Studien mit Menschen auszuschließen.
  • Manche Körpermechanismen bei Tieren ähneln Menschen: Mithilfe von Tierversuchen konnten Impfstoffe, beispielsweise gegen Polio, und Therapien zur Behandlung von HIV entwickelt werden. Auch die Grundlagenforschung für die mRNA-Impfstoffe beruht auf Tierversuchen.
  • Die Haltungsbedingungen von Tieren in Laboren wurden 2010 durch die EU-Versuchstierrichtlinie 63 verschärft.
  • Auch für die Entwicklung von Zellkulturen und Multi-Organ-Chips sind tierische Produkte notwendig.
  • Zellkulturen können den Blutkreislauf und den Gesamtorganismus noch nicht genau nachbilden, was insbesondere für die Impfstoffentwicklung von Bedeutung ist.
  • Die Erforschung von Alternativmethoden braucht Zeit und muss finanziell stärker gefördert werden.
  • Auch die Arbeit mit nachgebildeten Organen und Multi-Organ-Chips wirft ethische Fragen auf, zum Beispiel die nach Patientendaten.

Contra:

  • Die Ergebnisse aus Tierversuchen sind nicht eins zu eins auf Menschen übertragbar. Die Mechanismen im Körper einer Maus funktionieren anders als die im menschlichen Körper und lassen sich daher nicht direkt übertragen.
  • Die Haltung von Labortieren ist nicht artgerecht.
  • Tierversuche sind auf Dauer teurer und die Haltung von Versuchstieren ist aufwendiger als Tests mit nachgebildeten Organen und Multi-Organ-Chips.
  • Versuche an menschlichen Zellkulturen können genauer als Tierversuche sein.
  • Organoide sind personalisiert, da sie direkt aus Stammzellen von Patienten hergestellt werden.
  • Computersimulationen könnten mithilfe von künstlicher Intelligenz bei der Giftstoffprüfung komplexe Ökosysteme genauer abbilden als Versuche mit einzelnen Tierarten.
  • Tierversuche und die Kontrollmechanismen von Versuchen werfen ethische Fragen nach dem Verhältnis von Nutzen und Schaden auf.

Tierversuche in den USA: Hat ein neues Gesetz in den USA Vorbildcharakter?

Ein "FDA approved"-Stempel zwischen Arzneimitteln, Spritzen und Pillen. Mäuse, Ratten, Affen, Fische, Schafe, Schweine, Katzen und Hunde werden in Tierversuchen eingesetzt. An ihnen werden Medikamente, Impfstoffe und Chemikalien getestet. Labortiere sind in der Medizin aber auch wichtig, um Therapien wie Organtransplantationen auszuprobieren. Tierschützer kritisieren, dass zu wenig an alternativen Methoden geforscht wird. | Bild: picture-alliance/dpa

Die US-Arzneimittelbehörde FDA lässt seit 2023 auch Arzneimittel ohne Tierversuche zu.

Beim Ersatz von Tierversuchen könnten die USA eine Vorreiterrolle spielen: Ein bundesweites US-Gesetz (ab Seite 3.209), das im Dezember 2022 verabschiedet wurde, sieht vor, dass Arzneimittel nicht mehr in Tierversuchen getestet worden sein müssen, um von der US-Arzneimittelbehörde (FDA) zugelassen zu werden. Medikamente können nun auch in den USA zugelassen werden, wenn sie mit alternativen Methoden wie Organoiden auf Wirksamkeit und Nebenwirkungen getestet wurden. Die FDA hat bei der Zulassung eines Medikamentes jedoch immer noch einen großen Spielraum. Forscher wie Andreas Kurtz von der Charité Berlin sehen in dem neuen Gesetz einen Türöffner für mehr Investitionen in die Forschung an pluripotenten Stammzellen und Organoiden. Dennoch werde sich eine Trendwende wohl über Jahrzehnte hinziehen. Fraglich bleibt auch mit dem neuen US-Gesetz, ob Tierversuche ganz ersetzt werden können.

Tierrecht: Internationaler Tag des Versuchstieres

Der Gedenk- und Aktionstag zum Schutz von Labortieren wurde 1962 von der britischen Tierrechtsaktivistin Muriel Lady Dowding ins Leben gerufen. Mäuse, Ratten, Affen, Fische, Schafe, Schweine, Katzen und Hunde werden in Tierversuchen eingesetzt. An ihnen werden Medikamente, Impfstoffe und Chemikalien getestet. Labortiere sind in der Medizin aber auch wichtig, um Therapien wie Organtransplantationen auszuprobieren. Tierschützer kritisieren, dass zu wenig an alternativen Methoden geforscht wird. | Bild: picture-alliance/dpa

Ein Gedenktag zum Schutz von Labortieren wurde 1962 von der britischen Tierrechtsaktivistin Muriel Lady Dowding initiiert.

Am 24. April ist der "Internationale Tag des Versuchstieres" ("World Day for Laboratory Animals"). Der Gedenk- und Aktionstag wurde 1962 von der britischen Tierrechtsaktivistin, Muriel Lady Dowding, ins Leben gerufen. Lady Dowding engagierte sich besonders gegen Tierversuche in der Kosmetik. Als Datum wählte sie den Geburtstag ihres Ehemannes, Baron Hugh Dowding, ein Royal-Air-Force-Offizier und späterer Tierschutzaktivist. Das Ehepaar setzte sich gemeinsam für den Tierschutz ein.

Mehr Wissen über Tierversuche: Quellen und andere Infos zu Experimenten mit Tieren