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Biografie Der Sinto-Künstler Alfred Ullrich

Mit seinen Werken über Sinti und Roma kämpft der Dachauer Künstler Alfred Ullrich nicht nur gegen hartnäckige Vorurteile der Gesellschaft, sondern versucht so auch seine eigene Familiengeschichte zu verarbeiten. Ein Lebenslauf.

Von: Henry Lai

Stand: 11.04.2012 | Archiv

"Zigeunerromantik". Mit diesem Wort beschreibt Alfred Ullrich die ersten neun Jahre seiner Kindheit. 1948 wird er im bayerischen Schwabmünchen geboren. Die meiste Zeit verbringt er aber am nördlichen Stadtrand Wiens, wo er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in einem "Planenwagen" lebt. Die ersten Jahre bestehen für ihn aus nächtlichem Musikmachen am Lagerfeuer, Einschlafen mit Blick auf den Sternenhimmel, Nomadenleben. Zigeunerromatik eben.

In Dachau ein Zuhause gefunden

Der bildende Künstler Alfred Ullrich auf einem Familienfoto mit seiner Mutter.

Nach seiner Schulzeit in Wien zieht es ihn ins Ausland. 1969 unternimmt er Reisen, trampt durch ganz Europa. Drei Jahre zieht er von Ort zu Ort, bis er schließlich 1971 in München landet. Dort kommt er in einer Kunstgießerei eines befreundeten Künstlers unter, arbeitet danach als Bühnenarbeiter und in einer Werkstatt für manuelle Druckverfahren. 1980 zieht er nach Biberbach bei Dachau und eröffnet dort sein Atelier, um als Künstler zu arbeiten.

Die Kunst der Aufarbeitung

In den ersten Jahren seines künstlerischen Schaffens beschäftigt sich Alfred Ullrich vor allem mit ästhetischen und technischen Fragen. Erst nach und nach verändert er seinen Fokus auf gesellschaftliche Probleme. Sein zentrales Thema, beeinflusst von seiner Herkunft, ist die Lebenswelt der Sinti und Roma. Zu seiner Aufgabe macht er es sich, der "Mehrheitsgesellschaft" die Augen zu öffen – und seine eigene, traumatische Familiengeschichte zu verarbeiten.

Matéo Maximoff: Die Ursitory (1938)

2007 illustriert Alfred Ullrich den Roman "Die Ursitory" des Roma-Autors Matéo Maximoff.

2007 ist die tschechische Übersetzung des Romans "Die Ursitory" vom Roma-Autor Matéo Maximoff erschienen. Für diese Auflage hat Alfred Ullrich Illustrationen angefertigt. Die Kaltnadelradierungen sind in Rot und Blau gehalten und zeichnen die Buchfiguren abstrakt und in harten Linien.

Nachdem sich Matéo Maximoff (1917 – 1999) selbst das Lesen und Schreiben beigebracht hat, schreibt er als 20-jähriger den Roman "Die Ursitory". In dem Buch erzählt er die Geschichte des Zigeunerjungen Arniko, dem die Ursitory – die Schicksalsengel der Zigeuner – nur drei Tage zu leben geben. Durch eine List seiner Mutter überlebt er und gilt fortan als unverwundbar. Als er heranwächst und sich in die Tochter einer verfeindeten Familie verliebt, wird ihm der Schicksalsspruch zum Verhängnis.

Alfred Ullrichs gesamte Familie ist 1939 in Konzentrationslager verschleppt worden. Seine Mutter war in mehreren Lagern und verlor dort Eltern, zwölf ihrer fünfzehn Geschwister und ihren ersten Sohn. Sie überlebte die Gefangenschaft zwar, doch steckten die Erlebnisse so tief in ihr, dass auch Alfred Ullrich davon geprägt wurde. Themen wie Schmerz, Tod und Verletzlichkeit finden sich auch in seinen Arbeiten wieder.

Seine Werke wirken

Perlen vor die Säue: Alfred Ullrich bei seiner Aktion "Pearls before swine" in Lety.

Um Zeichen zu setzen, verlässt sich Alfred Ullrich nicht nur auf seine Drucke allein. Seit 2000 unternimmt er immer wieder Aktionen, um die Öffentlichkeit zu provozieren. Seine erste Aktion nennt er "Pearls before swine". Auf dem Foto, das dabei entstanden ist, sieht man ihn vor dem Metallgatter eines tschechischen Schweinemastbetriebs stehen. Die Hand hat er halb geöffnet, er lässt Perlen auf den Boden fallen. Der Grund für seine Aktion: Der Betrieb steht auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslager Lety. Auch heute noch.

In Dachau erhebt Alfred Ullrich seine Stimme für die Situation der Sinti und Roma. 2006 prangert er in seiner Ausstellung TRANSIDENTIES die Verhältnisse der öffentlichen Toiletten am ehemaligen Landfahrerplatz an. Er macht Fotos und dreht ein Video. Die Reaktion kommt prompt und ohne viel Aufsehen: Über Nacht verschwinden die Toiletten, zurück bleibt ein Dixi-Klo. 2011 verschwindet schließlich auf seine Anregung auch das Schild mit der Aufschrift "Landfahrerplatz kein Gewerbe" – das Wort Landfahrer stammt aus dem Wortschatz der Nationalsozialisten.


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