Telekolleg - Deutsch


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Rhetorik Übung

Stand: 31.10.2016 | Archiv

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Frage

Weniger als drei Minuten dauerte und aus gerade 272 Worten bestand die Rede, die bis heute das Selbstverständnis der USA bestimmt. Gemeint ist die Rede, die Abraham Lincoln am 19. November 1863 bei der Einweihung des Militärfriedhofs in Gettysburg hielt. Es ist wohl mit Abstand die kürzeste von allen Reden, die historisch bedeutsam wurden.

Aufgabe: Analysieren Sie Aufbau, Argumentationsstrang und die bedeutsamsten rhetorischen Mittel dieser Rede. Formulieren Sie mit eigenen Worten die Botschaft dieser Rede.

Abraham Lincoln: Gettysburg Address

Vor viermal zwanzig und sieben Jahren haben unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Nation ins Leben gerufen, in Freiheit gezeugt und dem Grundsatz verpflichtet, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.

Jetzt stehen wir mitten in einem großen Bürgerkrieg, der darüber entscheidet, ob diese Nation oder jede so entstandene und solchem Grundsatz verpflichtete Nation dauerhaft bestehen kann. Wir haben uns auf einem großen Schlachtfeld dieses Krieges versammelt. Wir sind hierher gekommen, um einen Teil dieses Feldes denjenigen als letzte Ruhestätte zu weihen, die an diesem Ort ihr Leben gelassen haben, damit diese Nation leben möge. Es ist nur recht und billig, dass wir das tun.

In einem tieferen Sinne aber können wir diesen Boden gar nicht weihen, können ihn nicht segnen und nicht heiligen. Die tapferen Männer, ob lebend oder tot, die hier gekämpft haben, haben ihn schon auf eine Weise geweiht, der wir auch nicht annähernd in der Lage sind, etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen. Die Welt wird kaum zur Kenntnis nehmen noch sich lange an das erinnern, was wir hier sagen – aber sie kann niemals vergessen, was jene hier taten. Es ist vielmehr an uns, den Lebenden, dass wir hier dem unvollendeten Werk geweiht werden, das jene, die hier kämpften, so edelmütig bis zu diesem Zeitpunkt vorangebracht haben. Es ist vielmehr an uns, dass wir uns der großen Aufgabe, die noch vor uns liegt, hier weihen – dass wir die Toten ehren durch noch mehr Hingabe an die Sache, für die sie das höchste Maß an Hingabe aufbrachten – dass wir hier feierlich erklären, diese Toten sollen nicht umsonst gestorben sein, dass die Nation, mit Gottes Beistand, eine Neugeburt der Freiheit erlebe, und dass das Regieren des Volkes durch das Volk und für das Volk von dieser Erde nicht wieder vergehen soll.

Antwort

Allein "Rhetorik lehrt Rhetorik zu erkennen" (Blumenberg, zitiert nach Ueding Moderne S.120). Also lösen Sie die Aufgaben am besten nach den rhetorischen Grundregeln, die Sie gelernt haben .

Abraham Lincoln: Gettysburg Address

a) Gliederung der Rede
b) Argumentationsstrang
c) Rhetorische Mittel
d) Botschaft

a) Gliederung
Nahezu jede Rede gliedert sich
• in eine Einleitung, in der der Redner das Publikum zu gewinnen sucht. Lincolns Einleitung umfasst den ersten Absatz. Er gewinnt seine Hörer dadurch, dass er die Zugehörigkeit aller Anwesenden (einschließlich seiner selbst) zu denselben Vätern, "unsere Väter", und die aus dieser Vergangenheit geborene gemeinsame Verpflichtung auf eine große Idee, die der Freiheit und Gleichheit, ins Zentrum rückt.
• in eine Darlegung des Sachverhalts, des "Ist-Zustands" aus der Perspektive des Redners. Diese Darlegung umfasst den zweiten Absatz von Lincolns kurzer Rede. Er legt 1. pointiert dar, worum es in diesem Krieg geht; nämlich ob diese und damit zugleich jede auf Freiheit und Gleichheit verpflichtete Nation eine dauerhafte Chance hat, 2. warum sich die Anwesenden jetzt versammeln, nämlich um den Militärfriedhof, der sich auf einem Teil des Schlachtfeldes befindet, zu weihen.
• in eine Argumentation. In dem Hauptteil der Rede, auf den hin alles aufgebaut wird, soll sich in Konfrontation mit anderen die eigene Ansicht als die stärkste und künftig vielversprechendste erweisen. In aller Kürze meistert Lincoln diese Aufgabe im dritten und letzten Absatz. Er konfrontiert hier die gewöhnliche Form der "(Ein-)Weihung" eines Militärfriedhofs, bei der die Anwesenden den Ort und die Toten weihen, mit der ursprünglichen, aus den Religionen stammenden Bedeutung von "weihen" als Darbringung eines Opfers. Diesen religiösen Sinn von Opfer überträgt er auf die politische Idee der Freiheit und Gleichheit, womit die eigentliche Weihung des Friedhofs nicht mehr Sache der gegenwärtigen Redner ist: Sie ist geschehen durch die im Bürgerkrieg Kämpfenden und Gefallenen. Den Friedhof zu weihen, heißt für die Anwesenden jetzt, demütig das Werk der Gefallenen zu respektieren und zu ehren, und zwar in dem festen Entschluss, ihr Werk zu vollenden, d.h. selbst künftig zu kämpfen für die "Neugeburt der Freiheit" und eine (über-)lebensfähige Demokratie.
• in einen Redeschluss, der in einer Handlungs- oder Entscheidungsanweisung kulminiert. Der geht in Lincolns Kurzrede nahtlos als eine Folge bewegender Beschwörungsformeln aus der Argumentation hervor und bildet keinen gesonderten Absatz.

b) Der Argumentationsstrang der Rede ergibt sich aus dem Aufbau:
• Evokation der gemeinsamen Vergangenheit und der alle verbindenden Idee der Gleichheit und Freiheit •Gezielte Interpretation des gegenwärtigen Stands des Bürgerkriegs und seines Sinns
• Bewegender Appell, aus Respekt für die bereits Gefallenen weiter für die Durchsetzung der Demokratie zu kämpfen

c) Rhetorische Mittel
• Gezielter Einsatz biblischer Zitate: "Vor viermal zwanzig und sieben Jahren" suggeriert, dass die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776, auf die damit rekurriert wird, bereits ein biblisches Alter erreicht hat.
• Absolute Kürze (möglich, weil Lincoln nur Nebenredner war, der Hauptredner, ein Altphilologe sprach zwei Stunden), durch die Lincoln sich auf die allgemeinsten und triftigsten Grundsätze des Krieges konzentrieren und alle möglicherweise entzweienden Details weglassen kann: außer Gott alle Namen, alle verlorenen und gewonnenen Schlachten, selbst die Nennung des Streitpunkts, der Sklaverei, und der Gegner.
• Anapher: Diese Wiederholung von Worten am Anfang aufeinanderfolgender Sätze (und Teilsätze) setzt Lincoln gegen Ende appellativ ein. "Es ist vielmehr an uns, dass ... . Es ist vielmehr an uns, dass.... , dass ...., dass ... dass ..."

d) Botschaft der Rede
Wiewohl mit der Analyse des Aufbaus und der Argumentation schon die wichtigste Vorarbeit zur eigenständigen Formulierung der Botschaft geleistet ist, ist noch zweierlei nötig:

1. Machen Sie sich die geschichtlichen Zusammenhänge deutlich, die zum Verständnis notwendig sind und den Zuhörern damals präsent waren. Dazu gehört: Fünf Monate vor Lincolns Rede hat bei dem kleinen Städtchen Gettysburg (Pennsylvania) die bislang blutigste Schlacht (50 000 Gefallene) des amerikanischen Bürgerkriegs stattgefunden, die mit dem ersten Sieg der Union über die sezessionistischen Südstaaten endete. 1776, das Datum, auf das sich der Beginn der Rede als verbindliches Erbe bezieht, markiert nicht etwa den Gründungsakt der USA als Staatenbund mit gemeinsamer Verfassung – der Verfassungsstaat konstituierte sich 1787. 1776 markiert das Datum der Unabhängigkeitserklärung, an dem sich der nordamerikanische Kontinent politisch zusammenschloss unter der Verpflichtung zu Freiheit und Gleichheit: "Die Gleichheit aller Menschen als Menschen und Geschöpfe Gottes, ungeachtet ihrer unendlichen Verschiedenheiten in Kultur, Religion, Rasse, Sprache, Psyche, Tradition." (Krippendorff S.22).

2. Vermeiden Sie, Ihre eigenen Konnotationen beim Hören/Lesen der Rede ungeprüft in Ihre Interpretation der Botschaft einfließen zu lassen. Machen Sie sich Ihre Vorurteile bewusst und reflektieren Sie sie. Letzteres ist bei dieser Rede besonders wichtig, weil einem hierzulande bei der Rede vom "Opfertod" für eine Nation spätestens seit der Nazizeit ziemlich mulmig wird. Damit ist die instinktive Ablehnung der Botschaft Lincolns vorprogrammiert. Da hilft nur eins: genau hingucken, was Lincoln wirklich sagt, den geschichtlichen Kontext heranziehen und prüfen, ob er derart Verwerfliches meint.

Beim (auch selbst-)kritisch prüfenden Blick zeigt sich: Die Nation, die den Kampf und das Opfer erfordert, ist – anders als bei den europäischen Nationalstaaten – keine Nation, die auf kultureller, religiöser, oder Rassen-Zugehörigkeit beruht, sondern allein auf den universalen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit. Die Zugehörigkeit zu dieser Nation bestimmt sich einzig und allein aus der freiwilligen Zustimmung der Bürger zu diesen Prinzipien und den daraus entspringenden Verpflichtungen. Und zu dieser tätigen Zustimmung sind hier alle aufgefordert und angehalten, deshalb sondiert Lincoln auch nicht groß Freund und Feind. Allein in dieser – den Deutschen lange fremden – Tradition des demokratischen Liberalismus ist Lincolns Botschaft zu verstehen.

Die Botschaft dieser Rede lautet:

Ehren wir all die Menschen, die in diesem Krieg für Freiheit und Gleichheit gefallen sind, dadurch, dass wir uns ebenfalls mit Haut und Haaren diesen Prinzipien unserer Väter verschreiben. Auf dass sich in diesem Krieg erweise, dass die Demokratie überleben kann – hier und anderswo in der Welt. Ihr Grundgedanke ist: Dieser Bürgerkrieg ist ein Versuchslabor, in dem getestet wird, ob überhaupt eine auf Gleichheit und Freiheit verpflichtete Nation überleben kann.


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