Telekolleg - Deutsch


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Nachgefragt Wie analysiert man eine Szene?

Auch bei der Analyse einer einzelnen Szene braucht man einen Überblick über das ganze Drama. Form und Aufbau helfen bei Fragen z.B. nach der Konstellation zweier Figuren. Hier ein paar Fragen und Tipps zum Verstehen.

Stand: 19.01.2013 | Archiv

Theaterprobe Wallenstein in Berlin | Bild: picture-alliance/dpa

Fragen bei der Lektüre

- Lesen Sie das Drama ganz durch, das ist unumgänglich, und lesen Sie die zu analysierende Szene mehrmals.
- Überlegen Sie, welche Funktion die Szene im Rahmen des Gesamtdramas hat. Dazu eigenen sich Fragen wie:
- Wo und wann spielt die Handlung? Was ging dieser Szene voraus?
- Wer, welche Personen treffen aufeinander? Waren sie schon eingeführt, wenn ja, wie? Wie begegnen sie sich jetzt?
- Zeigen die Figuren jetzt überraschende Züge ihres Charakters, oder kommt nur heraus, was man von Anfang an ahnte?
- Sprechen die Figuren in Dialogen oder offenbaren sie ihr Sinnen und Trachten in Monologen?
- Geben Regieanweisungen des Autors (Angaben zu Mimik und Gestik, zu Handlungen auf der Bühne) zusätzlich Aufschluss über die Figuren?
- Reflexionen über Aufbau und Form

Machen Sie sich klar, um welche Dramenform es sich handelt, dann können Sie den Stellenwert der Szene besser bestimmen.
Ist das Gesamtdrama geschlossen und wie eine Pyramide mit zunächst ansteigendem und dann absteigendem Spannungsbogen aufgebaut? Wenn ja, dann erklären Sie, ob die Szene entweder zum 1. Akt, der Exposition, gehört, wo die Handlung eröffnet wird, oder aber zum 2. Akt, wo die Handlung ansteigt und bestimmen Sie den dafür typischen "erregenden Moment", wo sich der Konflikt zuspitzt, oder ob sie zum 3. Akt gehört und wenn, inwiefern die Handlung hier zu einem Höhe- und Wendepunkt (Peripetie) kommt, oder ob sie zum 4. – retardierenden – Akt gehört und inwiefern sie die Handlung verzögert, oder aber, ob und wie sie die Katastrophe am Ende, im 5. Akt hervortreten lässt. Dieses Aufbauschema hilft indes nur bei den klassischen Dramen von den antiken griechischen Tragödien bis zu Schiller.

Handelt es sich um ein analytisches oder synthetisches Drama? Entfaltet/entfacht die dramatische Handlung den Konflikt oder enthüllt sie ihn nur?
Wenn hier ein analytisches Enthüllungsdrama vorliegt, bei dem das entscheidende, für die gesamte Handlung bestimmende Ereignis in der Vorgeschichte der gezeigten Handlung liegt, dann zeigen Sie, was das Spezifische ist, das in dieser Szene enthüllt oder aber noch verschleiert wird. Ein prominentes Beispiel für das analytische Drama ist übrigens Lessings Nathan der Weise (Wenn Ihnen ein synthetisches Entfaltungs- oder Zieldrama vorliegt, bei dem das entscheidende Ereignis der dramatischen Handlung am Schluss liegt, dann bestimmen Sie den Stellenwert der entsprechenden Szene hinsichtlich der Hinführung zum Schluss: Welches Tempo legt sie vor, verzögert sie, deutet sie etwa schon den Schluss an? Klassische Beispiele dieser Dramenform sind Schillers Maria Stuart und Wallenstein.
Handelt es sich um ein offenes Drama? D.h. ein Drama, das keinen bestimmten Anfang und keinen bestimmten Ausgang hat, ein Drama, in dem die Katastrophe in jeder Szene bereits präsent ist und nur aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wird? Wenn ja, dann erörtern Sie den bestimmten Blickwinkel der zu analysierenden Szene und interpretieren Sie, was sich daraus für die Situation der Protagonisten ergibt. Ein prominentes Beispiel eines solchen offenen, modernen Dramas ist Büchners Woyzeck.

Reflexionen über den dramatischen Konflikt

Handelt es sich um eine Tragödie oder um eine Komödie? Bei klassischen Dramen ist das noch recht einfach zu unterscheiden, je nachdem ob wir es – wie Aristoteles sagt – mit "edlen Charakteren" und Handlungen zu tun haben, oder eher mit allzu menschlichen Schwächen, die dem Gelächter und dem Spott ausgesetzt werden. Aber je moderner das Drama, desto verzwickter ist die Entscheidung. Einen Anhaltspunkt mag folgende Differenzierung geben:

- Die klassische Tragödie mit fünf Akten und strengem Versmaß orientiert sich an den Dramen der Griechen, besonders an Sophokles und Aischylos, und entfaltet oder enthüllt den unumgänglichen, d.h. schicksalhaften Untergang der Protagonisten.
- Die gemischte Tragödie mixt komische mit tragischen Elementen, hält sich meist nicht an die drei Einheiten, mischt gebundene Rede und prosaische und bindet volkstümliche Elemente ein: Ihr Vorbild ist Shakespeare, Goethes Götz folgt dem Vorbild.
- Das bürgerliche Trauerspiel entdeckt das Tragische in der Sphäre der Bürger und der Keimzelle des Bürgertums, der Familie. Beispiele sind Lessings Miß Sara Sampson und Emilia Galotti und etwas sozialkritischer: Die Kindermörderin von Heinrich Leopold Wagner. - Das soziale Drama behandelt den Untergang seiner Protagonisten nicht mehr als unumgängliches tragisches Geschick, gegen das nichts auszurichten ist, sondern als ein unter besseren gesellschaftlichen und politischen Bedingungen vermeidbares und zu vermeidendes Unglück. Sein Thema ist die Entlarvung der Missstände und der Scheinheiligkeit in der herrschenden Gesellschaft: Die erscheint hier als Gegenstand des Spotts und der Lächerlichkeit. Prominenter Vorläufer dieses entlarvenden Dramas ist Büchners Woyzeck, weitere Beispiele sind etwa die Dramen Gerhart Hauptmanns, z.B. Vor Sonnenaufgang und Die Weber.

Wie kommt der dramatische Konflikt zustande?
Handelt es sich um eine tragische Schuld, d.h. wurde der Protagonist , wie es so schön heißt, "unschuldig schuldig", d.h. ohne eigenes Zutun und ohne eigene Absicht? Eine Schuld, die dem Protagonisten nicht zuzurechnen ist, ihn aber dennoch untergehen lässt, ist Sophokles Ödipus, der ohne eigenes Wissen zum Mörder seines (ihm unbekannten) Vaters wurde. Handelt es sich um eine persönliche Schuld, die eine Person durch ihre Handlungen, die auch anders hätten ausfallen können, zu verantworten hat? Eine solche Schuld für sein Tun und damit den tragischen Untergang nimmt z.B. der Marquis von Posa in Schillers Don Carlos auf sich. Kommt der tragische Konflikt durch Irrtümer, Lügen oder einfach nur Missverständnisse zustande? Das ist der Fall bei Shakespeares Othello, den Bürgerlichen Trauerspielen Lessings und des frühen Schiller, z.B. Kabale und Liebe.


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