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Nachgefragt Aufgeladenes Rauschen. Fragen zum Gedicht

Die rätselhaften Texte der 80er und 90er Jahre beinhalten so viele Sprachspielereien und Sprachebenen, dass sie alles und nichts sagen. Lässt sich eine Gedichtskollage aus mehreren unterschiedlichen Ausgangsgedichten als solche entlarven?

Stand: 19.01.2013 | Archiv

Bronzeplastik des Frankfurter Grüngürteltier, eine Schöpfung des Zeichners und Dichters Robert Gernhardt, 2011 in Frankfurt  | Bild: picture-alliance/dpa

Aufgeladenes Rauschen. Fragen zum Gedicht heißt der Titel einer höchst anregenden Kritik der Lyrik der 80er und 90er Jahre, die der Dichter Robert Gernhardt (geb 1937) im Juli 1999 in der Netzzeitung Literaturkritik publizierte. Mit dem für ihn so typischen Spagat zwischen Komik und dezidierter Ernsthaftigkeit zeigt Gernhardt, wie man mit dem "dunklen Rauschen", das einem aus den Anthologien der 80er und 90er Jahre entgegentönt, fertig werden kann.
Denn um rätselhafte Texte mit vielen Sprachspielen und Sprachebenen handelt es sich bei der Mainstream-Lyrik der 80er und 90er Jahre: Sie hat sich von der unartifiziellen Alltagsprosa der 70er wieder entfernt und sich auf die Tradition der Moderne zurückbesonnen: "Die Literaturkritik diagnostizierte 1979/80 das Ende der Alltagslyrik und die 'Wiederkehr der Formen'. In der Literaturkritik formierten sich die Propheten der ästhetischen Restauration" (Briegleb S.449).

1. Eine Gedichtkollage decouvriert, bzw enthüllt die Beliebigkeit des neuen lyrischen Monologs

"Ein durchgehendes mürrisches Parlando" nannte Robert Gernhardt (1937-2006) die Rückkehr zum dunklen Monologisieren der Lyrik seit den 80er Jahren. Wie beliebig die stur, verschlossen, ohne Rücksicht auf Verständlichkeit aneinander gereihten Wortfolgen dieser Gedichte zuweilen sind, das demonstrierte Gernhardt: Er nahm sich eine Anthologie der 80er Jahre vor – es handelt sich um die von Hans Bender 1988 herausgegebene Sammlung: Was das sind für Zeiten. Deutschsprachige Gedichte der achtziger Jahre – und hängte einfach Sätze und Absätze aus vier Gedichten von einer Dichterin und drei Dichtern so aneinander, dass das neu entstandene Gedicht "weder Kleb- noch gar Bruchstellen aufwies" (so Gernhardt ebd.).

Gernhardts Gedichtkollage

Noch grün, die dürftige
Heimat, Deutschland
im Herbst, säuberlich
aufgeräumt wie immer.

Jetzt werden Ping Pong Tische
ins Freie gezogen
weiße Gartenmöbel
auf den Rasen gesetzt

Ein rosiges Licht über den Banktürmen
und Spatzen schwätzen an den Pfützen

Von weitem erkennen
einander Emigranten

Unterm Efeu Modergeruch
Wie sich Gras
über die Kindergräber wellt.

Die Kollage Gernhardts setzt sich aus Zeilen von Peter Hamm (geb. 1937), Michael Buselmeier (geb 1938), Ursula Krechel (geb. 1947), wieder Hamm und abermals Buselmeier zusammen. Das Resultat weist nicht mehr Brüche oder Unverständlichkeiten auf, als die Gedichte, die das Ausgangsmaterial bilden und sozusagen aus einem Guss sind, die aber mit so vielen Sprachspielereien und Impressionen aufwarten, dass sie alles und nichts sagen. Oder hätten Sie erkannt, dass dies "Gedicht" zusammengeklebt ist?

2. Vernichtende Kritik an der Lyrik der 80er Jahre

Gernhardt steht mit seiner Kritik an dem "mürrischen Parlando" dieser Lyrik nicht allein da, er kann sich auf Hans Magnus Enzensberger berufen, der pikanterweise selbst in der Anthologie vertreten war, aber natürlich nicht als einer der typischen Vertreter des Mainstreams dieser Zeit:

"1990 war Hans Magnus Enzensberger nach der Lektüre von Benders 80er Jahre-Bilanz zu einem verheerenden Urteil gekommen: Der Großteil der Gedichte sei unpolitisch, öde, harmlos, sturzbetroffen, tränentreibend dilettantisch, kritischer Kindergarten, S-Bahngefasel, irgendwo zwischen Tief- und Schwachsinn angesiedelt. Ein Verdikt, das naturgemäß nicht allen Stimmen des Buches gerecht werden wollte und konnte – immerhin gehörte auch die Hans Magnus Enzensbergers zu ihnen –, aber doch das traf, was man als den Mainstream der von Bender versammelten 80er Jahre-Lyrik bezeichnen könnte."

3. Lyrik der 90er Jahre: "eine lyrische Dauerwurst"

Gernhardts intensive Lektüre der Lyrikanthologie Michael Braun/Hans Thill (Hg.): Das verlorene Alphabet. Deutschsprachige Lyrik der 90er Jahre. Heidelberg 1998, führt zu einem ähnlich verheerenden Urteil über die Qualität und Aussagekraft der Lyrik der 90er Jahre:

"Zum Aussehen der Gedichte: Linksbündige, unterschiedlich lange Zeilen, wahlweise im Blocksatz, reihen sich ohne Leerzeile aneinander solange das Gedicht dauert. Durchgehende Kleinschreibung, seit den 50ern über Jahrzehnte Beleg unbedingt moderner Gesinnung, tritt nunmehr selten auf, dafür verwirrt in vielen Gedichten eine, sagen wir mal, schwankende Zeichensetzung samt zweideutiger, die grammatikalischen Bezüge verwischender Schreibweisen. Manchmal ... fehlen beispielsweise satzbeendende Punkte, was zur Folge hat, dass der neue Satz mitten in der Gedichtzeile kleingeschrieben anhebt, was für punktuelles Rätselraten sorgt.

Der Form nach ist das mainstream-Gedicht der 90er also so etwas wie eine lyrische Dauerwurst, die je nach Füllmasse mal kürzer, mal länger ausfällt. Die idealtypische Füllmasse wiederum enthält ebenfalls mainstream-Ingredienzen, man nehme: litaneihaft eingesetztes Wortmaterial, Neologismen, Wortspiele, fremdsprachliche Einschlüsse – beispielhaft verbindet drei der vier Bestandteile der Titel des Gedichtbands von Brigitte Oleschinsky "Your passport is not guilty" – und verrühre das solange, bis erkennbare Sprach- und Sinnbezüge völlig in einem meist dunklen, oft zähen, stets schwer deutbaren Zusammenhang aufgehen." (Gernhardt, Aufgeladenes Rauschen)

Besagte Anthologie von Braun und Thill versammelt nach Themen- und Motivgruppen geordnet auf 256 Seiten 127 Autoren, die in den 90er Jahre dichteten, vom 1915 geborenen "Nestor der Poesie, Karl Krolow" bis zu Jan Konffke, Jahrgang 1960.

Gernhardt macht wieder die Probe aufs Exempel und testet aus, ob sich hieraus – wie aus der Anthologie der 80er Jahre – "ein ähnlich werk- und personenübergreifendes 90er-Jahre-Gedicht destillieren bzw. zusammenkneten" (Gernhardt ebd.) lässt. Und siehe da: Es klappt hervorragend. Das Konzept der Mainstream-Lyrik der 90er Jahre kommt dem Kollagieren noch mehr entgegen als das der 80er Jahre. Denn die Gedichte bemühen schön postmodern die unterschiedlichsten Sprachebenen und Sprechweisen und eignen sich in ihrem dunklen Rauschen und Vorüberziehen der verschiedenen Stimmen und Töne vorzüglich für die Kollagetechnik.

Aus den Gedichtanfängen von Hans Thill (Jahrgang 1954), von Dieter M. Gräf (Jahrgang 1960), Sabine Techel (Jahrgang 1953), und Hansjörg Schertenleib (Jahrgang 1957), schneidet Gernhardt ein neues zusammen, das in dieser Sammlung glatt als eigenes Gedicht durchgehen könnte:

Speisen trifft der Vater, er lebt weiter:
im Messer, die sich auf weißem Tuch
ständig opfernde Mutter, sie dehnt
TRIFTIGE WASSER oberflach wie ein Spaten
in denen standen die Väter bis zum Hals.
Jedes Runzeln war ein kleiner Tod
fehlte Vater, du darfst nicht gegangen sein es
ist jetzt zuviel Frau im Haus. Überall Rohre
Von hinten her gestanzt Teil um Teil,
wird an den Müttern noch gearbeitet.

Damit ist wohl genug gesagt "zu den avanciertesten Positionen der 90er-Jahre-Lyrik, die, das sei kurz angemerkt, denen nicht unähnlich sind, die ein Benn seit den 20ern postulierte und praktizierte", wie Gernhardt feststellt.

Quellen

  • Klaus Briegleb und Sigrid Weigel (Hg.) Gegenwartsliteratur seit 1968. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. München 1992

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