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Fakten Fakten zur Lyrik der 70er Jahre

Unter dem Schlagwort „neue Subjektivität“ entstand zu Beginn der 70er Jahre eine neue lyrische Bewegung. Sie ist als Reaktion auf die Studentenrevolteund gegen die Lyrik der Nachkriegszeit zu verstehen.

Stand: 18.01.2013 | Archiv

Blick zwischen den Regalen in einer Unibibliothek | Bild: picture-alliance/dpa

1. Vorgeschichte: die Geburtsstunde des neuen Ich-Gefühls aus dem Zerfall der Studentenbewegung

Der vielbeschworene Tod der Literatur, der während der Studentenrevolte die Gemüter bewegte, griff besonders das zarteste Pflänzchen, die Lyrik an. Die Parole lautete: "Holen wir die geschriebenen Träume von den brechenden Bücherborden der Bibliotheken herunter und drücken wir ihnen einen Stein in die Hand" (Peter Schneider zitiert nach Volker Hage S.4).

Es galt, Flugblätter zu formulieren und Sprechchöre zu reimen, und daher blieb den engagierten Schriftstellern auch einfach nicht viel Zeit zum Dichten: "Solange ich aktiv an der Revolte teilnahm, habe ich außer Flugblättern und Reden nichts Nennenswertes zustande gebracht" bekennt Peter Schneider (Jahrgang 1940, einer der Wortführer der Berliner Studentenbewegung) im Rückblick – und das galt nicht nur für ihn. Die unmittelbare revolutionäre Praxis bündelte die Kräfte vieler Geister, und erst als deutlich wurde, dass es mit der großen erhofften Revolution nichts wurde, zu Beginn der 70er Jahre, entstand eine neue lyrische Bewegung, die bald unter dem Schlagwort "neue Subjektivität" ver- und gehandelt wurde:

"Was diese Poeten, ungeachtet ihrer individuellen Spielfarben, verwandt erscheinen lässt, ist die meist recht „unzimperlich selbstbewußte Herauskehrung“ eines Ich von ziemlich gleicher Herkunft (klein- bis mittelbürgerlicher), ähnlichem sozialen Status (literarisches Wanderarbeitertum) und vergleichbarem politischen Werdegang ... Fast bei allen in Frage stehenden Autoren datiert die Geburtsstunde des neuen Ich-Gefühls mit Zerfall der Studentenbewegung." (Peter Rühmkorf zitiert nach Hage S.7)

Inzwischen sind sich die Literaturwissenschaftler einig, dass die so genannte "neue Subjektivität" der 70er Jahre nicht allein als Reaktion auf die Studentenrevolte zu verstehen ist. Denn das Programm dieser – bereits 1967 treffend als Alltagslyrik bezeichneten – Dichtung entstand erstens bereits um 1965 bis 68 und richtete sich zweitens vor allem gegen die Lyrik der Nachkriegszeit, weniger gegen die engagierte politische Dichtung der 60er von Erich Fried (1921 - 1988), Yaak Karsunke (geb. 1934, erhielt 2005 den Erich Fried Preis) und Hans Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929). Letztere wurden übrigens auch schon zur Zeit ihrer Entstehung verspottet: 1966 hieß es in einem poetischen Kommentar von Günter Grass:

"sie kommen ans Ziel, sie kommen ans Ziel:
zuerst ins Feuilleton und dann in die Anthologie:
Die Napalm-Metapher und ihre Abwandlungen
im Protestgedicht der sechziger Jahre"
(zitiert nach Hage S.9f.)

2. Alltagslyrik der 70er Jahre: gegen die Monologe und Sprachmagie der Nachkriegszeit

Nicolas Born (1937 – 1979) war es, der in seinem ersten Gedichtband Marktlage 1967 proklamierte, was sich dann in den 70er Jahren als "poetischer Alltagsrealismus" durchsetzte: die "rohe unartifizielle Formulierung" (Born zitiert nach Briegleb S.432). Born forderte und sprach eine Sprache, die sich von allen traditionellen Stilmitteln, Metaphern und Symbolen befreit, um den "unmittelbaren Zugriff auf die alltägliche Erfahrungswelt zu ermöglichen" (ebd. S.432).

"Weg von der alten Poetik, die nur noch Anleitung zum Poetisieren ist, weg von Symbol, Metapher, von allen Bedeutungsträgern; weg vom Ausstattungsgedicht, von Dekor, Schminke und Parfüm. Die Gedichte sollen roh sein, jedenfalls nicht geglättet; und die rohe unartifizielle Formulierung, so glaube ich, wird wieder Poesie, die nicht geschmäcklerisch oder romantisierend ist, sondern geradenwegs daher rührt, dass der Schreiber Dinge, Beziehungen, Umwelt direkt angeht, das heißt also, Poesie nicht mit Worten erfindet." (Born zitiert nach Briegleb S.432)

Gefordert war eine neue Natürlichkeit, ein Abwerfen aller künstlichen Gesten und Hemmungen und ein Ende der Mystifikation des Dichters. Rolf Dieter Brinkmann fand die Vorbilder dafür bei amerikanischen Poeten wie Frank O'Hara (1926-1966), William Seward Burroughs (1914-1997) und Charles Bukowski (1920-1994). Das Gedicht sollte sich öffnen für die filmische Montagetechnik, für die Produkte der die Alltagswelt prägenden Kulturindustrie, für Pop und Werbung:

"Ich bin keineswegs der gängigen Ansicht, daß das Gedicht heute nur noch ein Abfallprodukt sein kann, wenn es auch meiner Ansicht nach nur das an Material aufnehmen kann, was wirklich alltäglich abfällt. Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als 'snap-shot' festzuhalten." (Brinkmann 1968 in seinem Gedichtband Piloten, zitiert nach Briegleb S.435)

Ob Snapshot einer Empfindung oder Alltagsnotiz, ganz gleich wie man es nennt, die unmittelbare Momentaufnahme prägte die Lyrik der 70er Jahre insgesamt. Das wird schon in den Titeln deutlich wie bahnhof lüneburg, 30. april 1976 von Nicolas Born oder Am 7. September von Hannelies Taschau (geb. 1937).

Brinkmanns Gedicht über das Ende des Sommers in einer westdeutschen Kleinstadt endet mit der Wendung:

"Ich
schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten
dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch"
(zitiert nach Hage)

Wie in diesen Zeilen tauchen in den Gedichten der 70er Jahre immer wieder die Autoren als Dichter auf, die betont "nebenbei", ohne viel Aufhebens dichten, was da steht. Auffallend ist auch der "erzählende, ja bisweilen plaudernde Ton dieser Lyrik ... Man spricht den Leser an. Der monologische Zug, der noch für Benn beim modernen Gedicht außer Zweifel stand, fehlt fast völlig ... Die Wörter bezeichnen in den Gedichten der siebziger Jahre weitgehend und vor allem das, was man auch im Alltagsgespräch unter ihnen versteht, ... das einzelne Wort ist aus seiner Bedeutungsschwere entlassen und steht nicht mehr zunächst und vor allem in einem Verweisungszusammenhang." (Hage S.13f.)

Das betont Unartifizielle in Sprache und Thema, ja in der Komposition des Ganzen – das den Alltagslyrikern bald den Vorwurf der "plumpen Vertraulichkeit" (Schneider) einbrachte, richtete sich gegen die Sprachmagie und Monologisierung der Nachkriegsdichtung. Die war im Wesentlichen von zwei Gestalten geprägt: von Gottfried Benn (1886 – 1956) und Hugo Friedrich (1904 – 1978). In Rätseln und Chiffren hatten hiernach die Dichter zu sprechen, was sie bequemerweise auch davon entband, wirklich über das "Vergangene" zu reden.

"Benn verbot unter anderem den Wie-Vergleich (statt sein Haar war weiß wie Schnee durfte der Lyriker knapp vom Schnee des Alters reden) und definierte das Gedicht generell als 'das Unübersetzbare'. Friedrich verkündete kategorisch: 'Moderne Lyrik scheidet nicht nur die private Person, sondern auch die normale Menschlichkeit aus'." (Hage S.8)

Ohne die Leistungen von Ingeborg Bachmann (1926 – 1973), Günter Eich (1907 – 1972) oder Karl Krolow (1915 – 1999) schmälern zu wollen stellt Hage fest, dass die Lyrik der 50er und 60er Jahre sich "immer mehr auf die Andeutung, die Aussparung, auf Verknappung und Dunkelheit" kaprizierte. Hiergegen setzte sich die Lyrik der 70er Jahre zur Wehr, für die sich inzwischen der Titel "Alltagslyrik" statt "neue Subjektivität" eingebürgert hat. Sie umfasst – um abschließend die Definition des Schriftstellers Jürgen Theobaldy (geb. 1944) zu bemühen – all

"die Gedichte, in denen ein von der 'Studentenbewegung' geprägtes Subjekt seine alltäglichen Gedanken und Erfahrungen, Stimmungen und Gefühle" thematisiert (zitiert nach Briegleb S.430).

Jenseits der hier thematisierten Tendenzen der 70er Jahre und der Nachkriegslyrik im Allgemeinen gab es natürlich immer wieder Dichter/innen, die ihre eigenen Vorstelllungen von Poesie ziemlich unbehelligt von den Trends weiterführten. Das gilt für viele bereits besprochenen Poeten wie Ernst Jandl und Peter Rühmkorf, das gilt aber auch für viele, die noch unerwähnt blieben und nur in kleineren Kreisen bekannt und gefeiert werden, eben weil sie nicht im Trend liegen. Um nur ein paar dieser Perlen zu nennen: Es gibt ganz großartige Gedichte aus der Zeit von Rose Ausländer (1901 – 1988), z.B. in dem Band Die Musik ist zerbrochen (Frankfurt a.M. 1984), oder die hermetische, sich nah an die letzten existenziellen Fragen heranwagende Lyrik von Ernst Meister (1911 – 1979) Ausgewählte Gedichte (Darmstadt 1979), die Gedichte von Christoph Meckel (geb. 1935) und Hilde Domin (1909 – 2006) sowie die z.T. herrlich eigenwilligen Gedichte von Michael Krüger (geb. 1943). Und diese Reihe jenseits der Trendsetter ließe sich noch lange fortsetzen.

Quelle:

  • Volker Hage (Hg.). Lyrik für Leser. Deutsche Gedichte der 70er Jahre. Stuttgart 1980.

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