Telekolleg - Deutsch


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Telekolleg Deutsch - Folge 04 Epische Kurzformen

Zu den kurzen Formen epischer Dichtung zählen sowohl Kurzgeschichten als auch Märchen und Novellen. Trotz gleicher Gattung sind sie doch sehr verschieden. Worin aber liegen die Unterschiede?

Stand: 07.09.2016 | Archiv

Bücher Grimms Märchen | Bild: picture-alliance/dpa

1. Das Märchen - eine Erzählform, die die Grenzen der realen Welt außer Kraft setzt.

In der Romantik, also im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, waren Märchen besonders populär. Die Brüder Grimm gaben zum Beispiel 1812 ihre berühmte Sammlung von Volksmärchen, die "Kinder- und Hausmärchen", heraus. Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Clemens Brentano oder Ludwig Tieck verfassten eigene, sogenannte "Kunstmärchen".

Büste Novalis

Eine besondere Rolle spielte diese Erzählform für Novalis (1772 bis 1801), der mit bürgerlichem Namen Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg hieß. Novalis wurde von seinem Freund Ludwig Tieck als der Prototyp des romantischen Genies beschrieben. Für den so jung verstorbenen Dichter war das Märchen gleichsam der "Kanon der Poesie", das Vehikel eines "Universalgeistes", der sich vom rationalistischen Kausaldenken abkehrt und das Wunderbare beschwört, eines Geistes, der Natur und Geisterwelt vereint.

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten
Und man in Märchen und Geschichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Novalis: "Heinrich von Ofterdingen". Tiecks Bericht über die Fortsetzung (Stuttgart 1971 S.208)

Die Begeisterung der Romantiker für Märchen hat, wie der Germanist Dr. Walter Hettche erklärt, zum einen poetologische Gründe:

In der Welt der Märchen sind die Kausalgesetze und die Grenzen und Bedingtheiten, bzw. Abhängigkeiten der "realen Welt" außer Kraft gesetzt. Daher entsprechen Märchen dem Grundprinzip der völlig freien dichterischen Gestaltungskraft, dem Prinzip, das Friedrich Schlegel als programmatisch für die Romantik formulierte: "Die romantische Poesie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das oberste Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide." (Schlegel zitiert nach Beutin S.174.)

"Zum anderen resultiert diese Faszination für Märchen aus dem Interesse der Romantiker an Volksdichtung, zu der ja mündlich überlieferte Märchen genauso wie Volkslieder gehören. Sie entsteht insgesamt aus ihrem Interesse am Ursprungshaften des Ursprungs", so Dr. Walter Hettche.

2. Was versteht man unter einer Novelle?

Im 19. Jahrhundert beginnt auch die Blütezeit einer anderen epischen Kleinform, der Novelle. "Novelle kommt von neu, sie erzählt nach Goethes berühmter Definition eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit'", erklärt der Germanist Dr. Walter Hettche. Die Urform der Novelle findet sich in Boccaccios "Decamerone" (1350) einer Sammlung von 100 verschiedenen erzählten Begebenheiten, die durch eine Rahmenhandlung verknüpft sind. Nach dem Muster Boccaccios komponierte Goethe seinen berühmten Novellenzyklus "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" (1795). Die Novellen sind hier eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der lebhaft poetologische Fragen diskutiert werden, d.h., die Chancen und Probleme des Erzählens überhaupt.

Heinrich von Kleist wird häufig als der größte "Novellist" des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Dabei hat er selbst den Begriff "Novelle" gar nicht verwendet, der wurde nur von anderen auf seine großen Erzählungen wie "Michael Kohlhaas" (1810), "Die Marquise von O." (1808) und "Das Erdbeben in Chili" (1807) angewandt. Denn diese Erzählungen machen geradezu sinnfällig, was Kennzeichen der Novelle ist: Der straffe, auf einen dramatischen Höhe- und Wendepunkt hin orientierten Aufbau, der die gespannten Leser mitreißt und in Atem hält.

Seit Kleist trat die Einzelnovelle, die nun ohne Rahmenhandlung ganz für sich steht, in den Vordergrund, eine Form, die sich in der Biedermeierzeit (Annette von Droste-Hülshoff "Judenbuche", Jeremias Gotthelf "Die schwarze Spinne") und im Realismus (Theodor Storm "Der Schimmelreiter", Gottfried Keller "Romeo und Julia auf dem Dorfe") vollendete.

Wiewohl es im Gefolge von Gerhart Hauptmanns novellistischer Studie Bahnwärter Thiel auch eine spezifisch moderne Ausprägung der Novelle gibt – von Thomas Mann bis zu Martin Walser gepflegt – ist die Novellenproduktion im Vergleich zum 19. Jahrhundert stark zurückgegangen. "Die sprunghafte Alphabetisierung der Bevölkerung und die große Menge von Literaturzeitschriften im 19. Jahrhundert, für die die Novellen produziert wurden, ist ein Grund für die damalige Häufigkeit der Novelle. Heute sind indes die Literaturzeitschriften und damit der (Erscheinungs-)Ort der Novelle kaum mehr von Gewicht", erklärt Dr. Walter Hettche.

3. Was unterscheidet die Kurzgeschichte von der Novelle?

Von der Differenzierung der kurzen Erzählformen in Novelle, Erzählung und Kurzgeschichte hält der Kolumnist und Schriftsteller Maxim Biller nicht allzu viel. "Wer erzählt, will Realität abbilden oder erschaffen. Die Novellendefinition ist ein Korsett von Leuten, die meist nicht selbst geschrieben haben. Jeder schreibt vor sich hin und versucht Realität so zu bündeln, wie es ihm gelingt. Ich hoffe, meine Erzählung ist eine tausendfache Novelle, wo es immer wieder neue Wendungen und 'unerhörte Begebenheiten' gibt." (siehe Erzählband „Wenn ich einmal reich und tot bin“: Die Titelgeschichte handelt von jungen deutschen Juden, die sich in Paris treffen und über ihr Leben in Deutschland und die Deutschen debattieren)

Wiewohl in der Tat alle Definitionen nachträglich sind, eben herausdestillierte Wesensmerkmale, nach denen sich beim Schreiben wohl niemand sklavisch richtet, versucht Dr. Hettche dennoch eine Differenzierung:

"Anders als die Novelle hat es die Kurzgeschichte eher mit alltäglichen Personen und Begebenheiten zu tun. Sie stellt diese in einem bezeichnenden Augenblick pointiert, exemplarisch und noch kürzer als die Novelle dar."

"Eine Kurzgeschichte ist eine kurze Geschichte, mit einem Anfang und Ende, die spannend zu lesen ist", sagt ein Praktiker, der es wissen muss: der Kolumnist und Schriftsteller Axel Hacke. Mit seinen Kurzgeschichten hat Hacke großen Erfolg. Der rührt daher, dass es sich jedes Mal um Geschichten handelt, die nah am prallen Leben angesiedelt sind: mitten im emotional aufgeladenen Alltag, gebeutelt von gewöhnlichen Beziehungskisten, Problemen mit Kindern und der modernen Technik.

Axel Hacke ist auf dem hiesigen Markt eine Ausnahmeerscheinung. Denn anders als im angelsächsischen Raum erfreut sich die Kurzgeschichte in Deutschland nicht sehr großer Beliebtheit. Während sie dort spätestens seit Ernest Hemingway als ein Genre geschätzt wird, das gleichberechtigt neben dem Roman steht, herrschen hierzulande andere Lesegewohnheiten: Deutsche Leser/innen ziehen Romane vor.

"Wenn ich gute Kurzgeschichten von einem neuen Autor bekomme, versuche ich erst einmal einen Roman von ihm zu bekommen und zu veröffentlichen und die Kurzgeschichten dann nachzuschieben." So erklärt die Münchener Verlegerin Antje Kunstmann die Strategie, die angesichts des hiesigen Marktes geboten ist.

4. Was ist das Besondere an Internetliteratur?

Die Literatur hat auch den Cyberspace für sich entdeckt. Das Internet hat Auswirkungen auf die dort publizierten Texte.

Rasant werden Neuigkeiten und Informationen im Internet verbreitet. Längst akzeptieren wir Kürzel, emoticons und die damit verbundenen kurzen Schreibformen. Es wird gesimst, getwittert, gepostet. Wir haben uns an eine fragmentarische Kommunikation gewöhnt, an puristische, umgangssprachliche Schreibstile. Ungeduldig überfliegen wir lange Textpassagen, lesen quer statt zu schmökern. Schnell werden Inhalte er – und ver-fasst. So ist es kaum verwunderlich, dass auch die Literatur im Internet schnell, sprich kurz, sein muss. Kaum jemand liest gerne viel am Bildschirm. Inhaltlich befassen sich die Autoren von Internetliteratur mit Alltäglichem und Aktuellem. Oft ersetzt das Internet inzwischen die Tageszeitung, den Nachbarschaftsplausch. Alltagstratsch wird in Foren und sozialen Netzwerken ausgetauscht. Und dies spiegelt sich auch in den Themen der Autoren wieder. Internetliteratur zu klassifizieren ist schwer, bei sekündlich neu eingestellten Inhalten stellt sich zunächst einmal die Frage, ob alles Geschriebene Literatur ist, oder falls nicht, wo eigentlich Netz-Inhalte anfangen Internetliteratur zu sein. Und damit sind wir wieder bei der eher philosophischen Frage: Was ist Literatur?

In einem Online Artikel der „Zeit“ heißt es zu Internetliteratur: „Netz und Computer sind weniger Spielwiesen der Avantgarde als vielmehr Realitäten, denen Autoren gerade in ihrer Eigenschaft als Textarbeiter nicht entgehen können. Die Frage danach, was die Literatur mit der Technik anstellt, hat sich zur Frage gewandelt, was die Technik mit der Literatur macht.“

Quellen:

  • Maxim Biller. Wenn ich einmal reich und tot bin. München 2000 (2. Aufl.)
  • Wolfgang Beutin, Klaus Elert, Wolfgang Emmerich (Hrsg.) Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 1994

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