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Fakten Epische Kurzformen

Es ist kaum möglich, exakte Begriffserklärungen für die unterschiedlichen epischen Kurzformen zu finden. Besonders deutlich wird dies bei der Kurzgeschichte.

Stand: 05.01.2013 | Archiv

aufgeschlagenes Buch mit Brille | Bild: picture-alliance/dpa

Wie jeweils die Gattungen definiert werden, das hängt davon ab, welche Texte als typisch für sie zugrunde gelegt werden. Das aber variiert: Paul Heyses berühmte Novellentheorie z.B. orientiert sich ganz an Boccaccios neunter Erzählung des Dekameron, in der ein Falke den Brennpunkt der Geschichte bildet, den Punkt, von dem aus sich das ganze Geschehen generiert und aufschließt. Gemäß der daran entwickelten "Falkentheorie" muss der Leser bei jeder Novelle fragen, "wo der Falke sei, also das Spezifische, das diese Geschichte von Tausend anderen unterscheidet" (Heyse, zitiert nach B.v. Wiese S.17) Angesichts dieser ständigen Jagd nach dem Falken bemerkte bereits der große Novellendichter Theodor Storm, dass er diesen "heyseschen Vogel getrost davonfliegen lasse" (ebd.).

Die folgenden, an Meid, Best und Wilpert orientierten Begriffserklärungen sind daher nicht als allgemeinverbindliche Definitionen (miss-) zu verstehen, sondern als eine offene Aufzählung von Merkmalen, an denen Sie erkennen können, um welche Art von epischer Kurzform es sich wahrscheinlich handelt. Nicht jedes Beispiel muss alle aufgezählten Merkmale aufweisen.

1. Parabel

Die Parabel (griechisch: Nebeneinanderwerfen, Gleichnis) ist eine meist auf anschauliche Belehrung abzielende kurze Erzählung, die eine allgemeine Erkenntnis durch einen analogen, aus einem anderen Vorstellungsfeld stammenden Vergleich erhellt. Die Parabel unterscheidet sich dahingehend vom Gleichnis, dass die Leser den Analogieschluss selbst ziehen müssen. Im Unterschied zur Fabel verzichtet die Parabel auf Anthropomorphisierungen (sprechende Tiere etc.). Die Parabel dient als rhetorisches Stilmittel – klassisches Beispiel ist Menenius Agrippa, der das Verhältnis von Bürgern im Staat durch die Parabel vom Magen und Gliedern erhellt. Ein Beispiel aus dem religiösen Kontext ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn im Neuen Testament, zur sittlichen Erziehung gilt Lessings Ringparabel als typisches Beispiel und zur Artikulation der modernen Befindlichkeit Kafka, Vor dem Gesetz.

2. Fabel

Im Allgemeinen bezeichnet Fabel (lat. fabula = Erzählung) den Plot, Stoff und Grundplan einer Dichtung, im Besonderen aber eine literarische Gattung kurzer lehrhafter Dichtung in Versen oder Prosa, die seit dem griechischen Dichter Äsop der Belehrung dient. Die Akteure der Fabel im engeren Sinn sind Tiere, Pflanzen oder unbelebte Naturdinge, die so handeln und sprechen wie Menschen. Diese Anthropomorphisierung (Vermenschlichung) ist Kennzeichen der antirealistischen Erzählweise, die insgesamt nicht auf Täuschung und Illusion, also die Vortäuschung eines wirklichen Geschehens angelegt ist, sondern auf satirischen Witz oder Belehrung. Diese Belehrung ist mal explizit, mal implizit in der Fabel enthalten. Die Tiere und Pflanzen verkörpern in der Fabel bloße Typen, keine individuellen Figuren. Die Fabel setzt dabei gezielt auf Stereotypen und allgemein anerkannte Charaktereigenschaften: die List des Fuchses, die Majestät des Löwen etc. Prominente Beispiele sind die antiken Fabeln des Äsop, die Fabeln La Fontaines, die der Aufklärung (Lessing, Gellert) und, ironisch gebrochen, die modernen Fabeln Brechts und Kafkas.

3. Märchen

Märchen kommt vom mittelhochdeutschen maere (Kunde, Bericht), bezeichnet aber eine der Realität und ihren kausalen Gesetzen enthobene kurze epische Form mit phantastisch-wunderbarem Inhalt. Grundsätzlich unterscheidet man die Volksmärchen, die nach langer mündlicher Überlieferung aufgezeichnet und gesammelt werden – prominentestes Beispiel sind die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm – von den Kunstmärchen, die sich ganz dem künstlerischen Schaffen verdanken (E.T.A. Hoffmann, Clemens Brentano, Oscar Wilde).

Typisch für Märchen sind

1. die Formeln zu Beginn und am Ende (Es war einmal oder In einem Königreich lebte einst ... Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch), die Ort und Zeit des erzählten Geschehens im Unbestimmten lassen und die Geschichte dadurch als universellerscheinen lassen.

2. phantastische und stark typisierte Figuren, die meist streng in gut und böse, arm und reich, schön und hässlich geschieden sind: Prinzessinnen, Könige, Bettler, Hexen, Zauberer, Riesen, Feen und andere Fabelwesen.

3. Die Handlung ist strikt auf die Helden ausgerichtet und oft in drei Teile gegliedert: drei sich steigernde Aufgaben, Versuche, Prüfungen. Typisch für Märchen sind ferner

4. Motive wie Vertreibung/Auszug (aus dem Elternhaus/dem Reich), Missachtung der Helden, ausgleichende Gerechtigkeit, Sieg des Guten, Bestrafung oder – wie beim Rumpelstilzchen – die Selbstzerstörung des Bösen.

5. eine einfache, anschauliche, mit wiederkehrenden (Zauber- und Verwünschungs-) Formeln und Allgemeinplätzen bestückte Sprache, die mit schroffen Gegensätzen arbeitet.

6. Das Wunderbare geschieht in dieser typisierten Märchenwelt "gleichsam selbstverständlich" (Meid S.325).

4. Novelle

Novelle kommt von italienisch novella, die Neuigkeit, und bezeichnet die straff und oft dramatisch komponierte, auf das Wesentliche/Bedeutende konzentrierte, meist objektivierende Erzählung mittlerer Länge, die eine "sich ereignete unerhörte Begebenheit" (Goethe) zum Gegenstand hat. Gerade die Novellen sind schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Merkmale zahlreicher Novellen sind:

1. der geradlinige, gedrängte Aufbau,

2. die Konzentration auf ein Geschehen, bzw. eine Handlung, die

3. oft dramatische Züge trägt: Storm nennt die Novelle die "Schwester des Dramas" (zitiert nach Gelfert S.31) und

4. einen Wendepunkt (Peripetie) hat.

5. weicht das erzählte Geschehen auffällig vom Alltäglichen ab, muss aber – im Unterschied zum Märchen – wahrscheinlich, also grundsätzlich möglich und glaubwürdig sein.

6. erhält der geschilderte Einzelfall durch die meist geschlossene, auf das Wesentliche reduzierte Form der Erzählung und durch den Verzicht auf Psychologisierung symbolische, allgemeine Bedeutsamkeit: Er sagt etwas über das Leben als Ganzes aus und weist über die Fiktion hinaus.

7. sind die meisten Novellen aus der Perspektive des allwissenden auktorialen Erzählers geschrieben.

8. waren Novellen ursprünglich eingebunden in eine Rahmenerzählung und Bestandteil eines Zyklus oder Kranz nach dem klassischen Vorbild von Boccaccios Dekameron

5. Kurzgeschichte

Die Kurzgeschichte kommt wie ihr Name Short Story aus dem Angloamerikanischen und bezeichnet die kurze Erzählform in Prosa, die sich in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg als eine eigenständige, hochstehende literarische Form durchsetzen konnte – allerdings auch nur vorübergehend. Die Kurzgeschichte ist kürzer als die Novelle und legt im Unterschied zu ihr Alltagsthemen zugrunde, die sie zu ungewöhnlichen Situationen zuspitzt. Sie ist "ein Stück herausgerissenes Leben" (W.D. Schnurre, zitiert nach Meid S.288) d.h. fragmentarisch und im Unterschied zur Novelle nicht auf das allgemein Bedeutsame/Symbolische einer "unerhörten Begebenheit" konzentriert. Die offene Form, ein unvermittelter, nicht durch eine Einleitung versehener Beginn und ein pointiertes Ende, verschiedene Erzählperspektiven, Durchschnittsmenschen oder Außenseiter der Gesellschaft als Personal, Verzicht auf einen deutenden Horizont und die Konzentration mehr auf eine Situation als auf eine Handlung sind weitere Unterscheidungskriterien zur Novelle.

Quellen:

  • Benno von Wiese (Hg.). Deutschland erzählt. Von Arthur Schnitzler bis Uwe Johnson. Frankfurt a.M. 1978 (23. Aufl.).
  • Volker Meid. Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Stuttgart 1999
  • Otto F. Best. Handbuch literarischer Fachbegriffe, Definitionen und Beispiele. Frankfurt a.M. 2000 (5. Aufl.)
  • Gero von Wilpert. Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1969 (5. Aufl.)

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