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Nachgefragt Der Roman im 20. Jahrhundert

In der traditionellen Erzählweise bediente sich der Autor eines Erzählers, ein „allwissender und alles überschauender Sänger“. In der „jüngsten epischen Großform“ jedoch wurde mit dieser Tradition gebrochen. Verschiedene Erzähltechniken und –formen werden mitunter in einem Werk vereint.

Stand: 03.01.2013 | Archiv

Bibliothek Humboldt Uni Berlin | Bild: picture-alliance/dpa

Typische Erzählsituationen

Auktoriale Erzählsituation: Die "objektive" Außenperspektive herrscht vor, der Erzähler ist als Kommentator, Vorausdeuter und Berichterstatter präsent, aber selbst nicht in das Romangeschehen involviert. Er hat den Überblick über das ganze Geschehen und suggeriert "Allwissenheit" und "Allmacht" über die Figuren und ihre Konstellationen. Der auktorial auftretende Erzähler lässt sich besonders leicht mit dem Autor verwechseln, wovor man sich indes bei allen Erzählungen – außer wirklichen Autobiografien – hüten sollte.
Die auktoriale Erzählsituation lässt sich exemplarisch studieren an Johann Peter Hebels "Unverhofftes Wiedersehen" oder an Jean Pauls "Siebenkäs". Ironisch mannigfach gebrochen liegt sie auch im "Zauberberg" vor.

Ich-Erzählsituation: Der Erzähler tritt selbst in der ersten Person in die Geschichte ein, erzählt sie aus der "Innenperspektive" des Beteiligten. Dadurch erscheint sie authentischer, echter, "wahrer". Gleichzeitig ist die Perspektive begrenzter: Im Unterschied zum auktorialen Erzähler kann der Ich-Erzähler nur die eigene "Innenwelt" offen legen, nicht die der anderen Figuren.
Adalbert Stifter lässt seinen "Nachsommer" (1857) von einem Ich-Erzähler erleben, ebenso Heinrich Böll "Die Ansichten eines Clowns" (1963).

Personale Erzählsituation: Kennzeichen sind das scheinbare Sich-selbst-Erzählen, also dass hier anscheinend niemand erzählt (erzählerloses Erzählen). Bei dieser Erzähltechnik zieht sich der Autor völlig hinter seinen Figuren zurück. Aus deren unterschiedlichen Blickwickeln allein erfahren die Leser das Geschehen. In der personalen Multiperspektive kann der sich verbergende Erzähler Innen- und Außensicht seiner Figuren fingieren.

Oft ist diese Erzählsituation mit einer szenischen Darstellung des Geschehens, mit direkter und erlebter Rede und innerem Monolog verknüpft. Geeignet ist personale Erzählsituation besonders für die realistische Darstellung gesellschaftlicher Konflikte. Nicht geeignet ist sie indes für eine überblickshafte, deutend-kommentierende Gesamtsicht des Geschehens: Von dem bekommen die Leser/innen immer nur so viel mit, wie es das jeweilige Wahrnehmungsfeld der gerade im Visier stehenden Romanfigur erlaubt.

An Franz Kafkas "Prozeß" (1925) oder an Hermann Brochs "Schlafwandlertrilogie" kann man diese Erzählhaltung in Reinform studieren.

Aufbruch der Moderne

Die personale Erzählsituation erwies sich am geeignetsten für das moderne, entfremdete und zerrissene Lebensgefühl, war sie doch offen für die vielfältigsten und disparatesten Perspektiven. Sie war in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts besonders beliebt. "Zum einen entsprach sie der vom Naturalismus geforderten quasi wissenschaftlichen Objektivität der künstlerischen Widerspiegelung von Realität; und zum anderen kam sie einer Rezeptionserwartung des modernen Lesers entgegen, der durch den Film an diese Form der Vergegenwärtigung des raumzeitlichen Ereigniskontinuums ohne Erzähler gewöhnt war" (Gelfert S.17).

Exemplarisch zeigt Döblins "Berlin Alexanderplatz", wie sich die auktoriale Erzählperspektive in der personalen auflöst und untergeht und gerade so das entfremdete Bewusstsein der Moderne spiegelt:

"Das Zusammengesetzte, Komponierte, des Romans lässt bereits die Gebrochenheit und Uneinheitlichkeit der modernen Welt sichtbar werden, der ein geordnetes und einheitliches Ganzes nicht mehr verfügbar ist. Psychologisch wird der Roman dort, wo er mit der Gewalt auktorialen Erzählens in der personalen Erzählperspektive untergeht und versinkt: Biblische Versatzstücke tauchen an der Oberfläche des verarbeitenden Bewusstseins ebenso auf wie Fragmente modern-technischer Lebenskultur. Es gibt keine Mitte mehr, keine Zentralperspektive, aus der heraus sich das Geschehen ordnen oder bewerten ließe. Die nihilistische, und gleichwohl mythologisch garnierte Figur des Todes, der die Pläne und Sehnsüchte des Menschen Biberkopf (der doch eigentlich "gut sein will") immer wieder zerbricht und auf ihre Echtheit hinterfragt, repräsentiert indessen jene fehlende Mitte, deren Nicht-Darstellbarkeit zum großen Problem der Moderne wird." (Hartmut Ernst in Lyrikwelt)

Quellen:

  • Hans-Dieter Gelfert. Wie interpretiert man einen Roman? Literaturwissen für Schule und Studium. Stuttgart 1999

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