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Hörbuch der Woche "Sibir" von Sabrina Janesch

Ein Hörbuch über Freundschaft, über Traumata und Verschleppung, aber auch um eine Vater-Tochter Beziehung – all das steckt in dem über 10stündigen und vielschichtigen Hörbuch "Sibir" von Sabrina Janesch. Für Kristina Dumas ist die ungekürzte Lesung ein Meisterwerk und das Hörbuch der Woche.

Author: Kristina Dumas

Published at: 13-2-2023

B5 aktuell: Das Hörbuch der Woche | Bild: colourbox.com/#257659; Montage: BR

"Jedes Kind hat Angst davor, von den Eltern getrennt zu werden. Mir aber verbreitete es einen wahren Horror ihn mit seinem dunkelgrauen BMW davon fahren zu sehen, ganz so, als würde er nicht nur räumlich davonfahren, sondern in seine Geschichten verschwinden, in sie eingehen, sich mir entziehen und unberührbar werden."

Zitat aus Hörbuch

So beschreibt die Ich-Erzählerin Leila in dem Hörbuch "Sibir" ihre Empfindungen, als der Vater in ihrer Kindheit und Jugend Norddeutschland länger verlässt und auf Geschäftsreise geht.
In "Sibir" dröselt die Autorin Sabrina Janesch ihre eigene Lebensgeschichte auf, geht den Erinnerungen ihres demenzkranken Vaters nach, um sich selber besser zu verstehen, und findet: die Geschichte eines Heimatlosen, für den sie die Figur Josef Ambacher erfindet.
Wie Hundertausende deutscher Zivilisten wird Josef Ambacher nach Kriegsende aus Westpolen von der Sowjetarmee zur Zwangsarbeit nach Kasachstan verschleppt. Die Erfahrungen sind traumatisch. Auf dem Weg dorthin stirbt Josefs kleiner Bruder, die Mutter verschwindet.

"Mein Vater Josef Ambacher setzte sich ein Leben lang gegen die Geister der Vergangenheit zur Wehr, die Gin der Steppe, wie er sie nannte. Das erste Mal erzählte er mir von den Stimmen, da war ich zwölf Jahre alt, es war kurz nach dem Schneesturm, der unser Leben durcheinandergewirbelt hatte. Dieses Echo, so stelle ich es mir vor, hat ihn irgendwann innerlich zum Zerreißen gebracht. Die Rückkehr der Stimmen, gerade jetzt, bedeutet vielleicht, dass mein Vater mit seinem früheren Leben noch nicht abgeschlossen hat, dass seine Erinnerungen zu ihm gehören, auch wenn er sie hätte auslöschen wollen."

Zitat aus Hörbuch

In dem Hörbuch beschreibt die Autorin, wie rau und hart die Steppe Kasachstans ist. Die Verschleppten müssen in Kolchosen arbeiten, harren unter ärmlichsten Bedingungen in Lagern, Erdhäusern und zugigen Hütten aus. Sie leiden Hunger, sind mit Schneestürmen, Schlangen und wilden Steppenwölfe konfrontiert.
10 Jahre muss sich Josef Ambacher in dieser Umgebung zurechtfinden.
1955 darf er, wie so viele andere, nach Deutschland reisen und landet in Norddeutschland. Die Familien dieser Heimkehrer? leben zurückgezogen, bleiben unter sich und erzählen den Außenstehenden wenig von ihrem Leben in Kasachstan.

"Als Kind hatte ich den Eindruck, mein Vater stehe im Zentrum unserer Gemeinschaft. Zu ihm kamen die, die nachts nicht schlafen konnten. Seine Nähe suchten Sockensammler, Hasenfresser, vom Dörren wilder Früchte Besessene, Landkartenzeichner… und wahnhafte Melancholiker."

Zitat aus Hörbuch

 "Sibir" berührt, weil Sabrina Janesch eine weniger bekannte deutsch-russische Familiengeschichte aus der Innenperspektive erzählt, ganz nah und persönlich. Greifbar wird auch die enge Vater-Tochter Beziehung.  

"Mein Vater war jemand, der ständig Ruhe brauchte, der Menschen anstrengend fand. Für mich bedeutete es viel, eine Ausnahme darzustellen, jemand zu sein, dessen Anwesenheit ihn nicht erschöpfte, ich wollte um jeden Preis vermeiden, aus dieser Sonderrolle herauszufallen und hatte lernen müssen, jeder seiner Launen und Stimmungen genau einzuschätzen."

Zitat aus Hörbuch

Produziert ist das Hörbuch ohne Geräusche oder Musikuntermalungen. Doch der über 10stündigen Lesung folgt man gespannt, denn der Schauspielerin und Sprecherin Julia Nachtmann gelingt es, die vielschichtige Geschichte und die vielen Charaktere mit ihrer warmen Stimme so nuanciert zu interpretieren, dass ein großer Spannungsbogen entsteht.

Das Hörbuch "Sibir" ist bei Argon edition erschienen.


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