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Hörbuch der Woche "Samuels Buch" von Samuel Finzi

Samuel Finzi kennt man aus zahlreichen Kino- und Fernsehfilmen und als erfolgreichen Theaterschauspieler, ausgezeichnet mit dem Deutschen Schauspielerpreis und mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring. Kaum jemand weiß jedoch, das Samuel Finzi eigentlich Bulgare ist und erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Deutschland kam. Von seiner Kindheit und Jugend und seinen bulgarischen Eltern und Verwandten erzählt er in dem autobiographischen Roman "Samuels Buch", dessen Hörbuchversion der Schauspieler natürlich selbst eingesprochen hat – für Bernhard Jugel ist es das Hörbuch der Woche.

Von: Bernhard Jugel

Stand: 24.04.2023

B5 aktuell: Das Hörbuch der Woche | Bild: colourbox.com/#257659; Montage: BR

"Und was ist das, Opa? – Beethoven, die Siebte, zweiter Satz, Überleitung zum zweiten Thema, murmelt er, während er mit der einen Hand die Haut an seinem Hals nach unten zieht und mit der anderen das Rasiermesser in die entgegengesetzte Richtung gleiten lässt."

Zitat aus Hörbuch

In jeder Lebenslage weiß Samuels Großvater, welches klassische Stück gerade im Radio läuft. Bildung wird in der Familie großgeschrieben. Und selbst im sozialistischen Bulgarien gibt es in den 60er Jahren ein reges Bohème-Leben. Der kleine Samuel ist Teil davon – sitzt am Tisch bei den Abendessen mit Künstlerfreunden in der Wohnung der Eltern, geht in die Konzerte seiner Mutter, einer berühmten Pianistin oder begleitet den schauspielernden Vater zu Theaterproben.

"Oh nein ist das möglich – diese Schnake auf zwei stockdünnen Beinen, ohne Hals mit Buckel auf dem Rücken und überdimensionaler Adlernase mitten im Gesicht, die mit gespreizten Armen und auf Zehenspitzen die kleine dicke Frau umkreist, kann das Papa sein? Soll ich jetzt lachen oder muss ich mich für Papa schämen? Ist das jetzt gut?"

Zitat aus Hörbuch

Es ist gut. Selbst der Regisseur, der die Probe leitet, fängt an zu lachen. Geschickt hat Samuel Finzi seine Erinnerungen zu kurzen Geschichten verdichtet, die Schlaglichter werfen auf die Berufe seiner Eltern, auf komplexe Verwandtschaftsverhältnisse, auf Erlebnisse in der Schule und beim Militär, auf die politischen Verhältnisse. Auf einem Berggipfel werden Achtklässler vor dem Denkmal eines Revolutionärs in den Kommunistischen Jugendbund aufgenommen. Bei dieser Gelegenheit sieht Samuel zum ersten Mal Bulgariens Staatsoberhaupt, von seinen Lehrern devot "der Erste" genannt.

"Der Erste wird jeden Moment da sein! Wenn der Erste erst mal da ist, muss die Zeremonie sofort beginnen! Plötzlich durchbohrt ein gigantischer weißer Hubschrauber die dichte Wolkendecke und landet in nächster Nähe. Gleich kommt der Moment, in dem der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Bulgariens und Staatsoberhaupt Genosse Todor Schiwkow vor mir erscheinen wird. Das ist er! Und er winkt!"

Zitat aus Hörbuch

Der Charme dieses autobiographischen Romans besteht darin, dass Samuel Finzi durchweg die Perspektive des Kindes, des Jugendlichen, des jungen Erwachsenen einnimmt und so die Enge und Beschränktheit des sozialistischen Alltags auch für Außenstehende nachvollziehbar macht. Typisch dafür: nach einer hart erkämpften Familienreise nach Frankreich will Samuel Freunden davon erzählen und setzt sich dazu mit ihnen – wie in Paris üblich - auf den Gehsteig. Wenige Minuten später erscheinen Milizionäre.

"Steht sofort auf! Gibt es keine Bank für Euch? Wir haben welche bei uns auf der Wache! Wollt ihr sie ausprobieren? Das war’s. Bruchlandung."

Zitat aus Hörbuch

Samuel Finzi hat die Fähigkeit, die Szenen, die er beschreibt, mit Gefühlen zu unterfüttern, und sie so lebendig werden zu lassen. Seine leichte Sprachfärbung mit den weichen Konsonanten und etwas gedehnten oder gestauchten Vokalen stört da nicht, im Gegenteil: Sie verleiht dieser Erzählung Authentizität – einer Erzählung, die kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit dem Beginn eines neuen Lebensabschnitts zu Ende geht.

"Am 17. Dezember 1989 landet am frühen Abend eine Maschine der bulgarischen Flluggesellschaft Balkan am Flughafen Berlin-Schönefeld Unter den Passagieren befindet sich ein gewisser Samuel Itzhak Finzi, bulgarischer Staatsbürger, zu diesem Zeitpunkt dreiundzwanzig Jahre alt."

Zitat aus Hörbuch 

"Samuels Buch" von Samuel Finzi, auf 5 CDs ungekürzt gelesen vom Autor, ist bei Hörbuch Hamburg erschienen.


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