Hörbuch der Woche "Melody" von Martin Suter
"Das Leben erzählen ist Fiktion, die Erinnerung verleitet einen zur Fiktion", das sagt der Schweizer Schriftsteller Martin Suter in dem Dokumentationsfilm über ihn und sein Leben. Mit dem Thema "Erinnerungen" spielt Martin Suter, passenderweise mit seinen gerade 75 Jahren, ebenfalls in seinem neuen Roman "Melody". International bekannt wurde er auch durch seine "Allmen-Krimi-Buchreihe" sowie unzählige weitere Romane, Drehbücher, Theaterstücke und Liedtexte für den Popmusiker Stephan Eicher. Sein neuestes Werk "Melody", erscheint am 22.März. Für Isabelle Auerbach ist es das Hörbuch der Woche.

"Die Erinnerungen sind eine seltsame Sache. Je älter du wirst, desto weniger weißt du, ob sie echt sind oder einfach entstanden – wie Stalaktiten in einer Tropfsteinhöhle."
Zitat aus Hörbuch
Martin Suter treibt in seinem Roman "Melody" das Verwirrspiel mit Erinnerungen und vor allem mit deren Wahrheitsgehalt auf die Spitze.
Konkret geht es um die Erinnerung oder Fantasie von Alt Nationalrat Peter Stotz. Er wohnt in einer herrschaftlichen Villa am Zürichberg - umgeben von Porträts der jungen schönen "Melody" mit marokkanischen Wurzeln:
"Sie saß in einem Polstersessel vor einer Bücherwand, hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß und sah fragend auf, als wäre sie vom Betrachter gestört worden. Ihr schwarzes offenes Haar fiel ihr auf der rechten Seite über die Schulter und verdeckte eine Hälfte des Ausschnitts ihrer gelben Bluse."
Zitat aus Hörbuch
Die Ölgemälde hat der alte Stotz selbst gemalt als Erinnerung an die Liebe seines Lebens. Kurz vor der gemeinsamen Hochzeit - vor über 40 Jahren - ist "Melody" auf rätselhafte Weise verschwunden. Bis heute kommt Stotz nicht darüber hinweg, bis heute fabuliert der gesellschaftlich einflussreiche ehemalige Major und Nationalrat. Als Zuhörer hat er den jungen Juristen Tom angestellt. Tom soll den Nachlass von Stotz ordnen, der krankheitsbedingt auf den Tod zu steuert. Bei den Kamingesprächen im Salon entwickelt sich nach und nach ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden Männern. Auf Toms Frage nach dem Wesentlichen im Leben von Dr. Stotz vertraut dieser seinem Zuhörer an:
"Ehrlich gesagt: Eigentlich war nichts wichtig. Er schwieg und fügte ernst hinzu: 'Außer Melody, außer ihr."
Zitat aus Hörbuch
Der Grund für ihr mysteriöses Verschwinden und die Auflösung dieses Geheimnisses lüftet Martin Suter erst ganz am Schluss mit verschiedenen Versionen. Dabei sorgt der Sprecher Andreas Fröhlich, bekannt als Bob in den Drei ???, mit seiner facettenreichen Interpretation für echte Spannungsmomente. Er ist genial ausgewählt für dieses achteinhalbstündige Hörbuch mit seinen zuweilen nachdenklich-melancholischen Passagen und überraschenden Wendungen. Andreas Fröhlich verleiht dem Greis Peter Stotz eine ruhigere knarzende Stimme. Er trifft den beschwingten Fabulierton genauso wie den nachdenklichen und macht das Dramatische spürbar. Mit seinen hörbaren Pausen gelingt es Fröhlich, die zuweilen krimihafte Handlung noch intensiver werden zu lassen. Überzeugend klingt er auch bei den vielen Nebenfiguren, etwa bei der Haushälterin Mariella oder Toms Freundin Laura. Am Ende gerät Stotz Erzählung rund um die Liebesgeschichte und um Melodys Lebensumstände ins Wanken. Ist seinen Erzählungen überhaupt zu trauen oder entwirft der alte Herr rückblickend ein fiktives Bild von sich und seiner Vergangenheit?
"Es geht ja letztlich immer um die Frage: Will man sich das Leben nach dem einrichten, was man glaubt oder will man das, was man glaubt, nach dem einrichten, wie man lebt."
Zitat aus Hörbuch
Und so bleibt in dem klug arrangierten Mosaik die Erkenntnis: eine objektive Wahrheit gibt es nicht. Ein großartiges Hörbuch, das zum Staunen, Mitfiebern und Nachdenken über Wahrheit und Fiktion und die Macht der Erinnerungen einlädt.
Die ungekürzte Lesung: "Melody" von Martin Suter, gelesen von Andreas Fröhlich, erscheint am 22. März im Diogenes-Hörbuch.