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Handgranaten im Wasser, Schmetterlinge im Bauch Von Menschen, die ihr Leben aufschreiben

Die Motive, warum jemand sein Leben aufschreibt, sind so verschieden wie die Menschen, die in der Sendung zu Wort kommen. Aber eines haben ihre Erinnerungen und Gedanken gemeinsam: Sie sind es wert, gehört zu werden.

Von: Gerhard Brack

Stand: 12.02.2020 | Archiv

Biografien gibt es im Buchhandel wie Sand am Meer. Buchhändlern fällt auf, dass immer mehr Menschen, die sich selbst für prominenter halten, als sie sind, ihre "Story" unters Volk bringen wollen. Ghostwriter helfen beim Aufschreiben. Dahinter steht – neben dem Wunsch, Geld zu verdienen - auch der Gedanke:

Wer schreibt, der bleibt!

Von der Bäuerin zur Autobiografin: Anna Wimschneider

Eine besondere Biografie war 1984 Anna Wimschneiders Werk "Herbstmilch", in dem sie ihr schweres Leben als Bäuerin auf dem Land in Niederbayern verewigte. Wimschneiders  Buch erlebte 57 Auflagen, wurde verfilmt und mehr als zwei Millionen Mal verkauft. Das Besondere damals war, dass eine Biografie von unten geschrieben wurde. Über Jahrhunderte hatten nur Adelige und später Bürger Autobiografien verfasst. Adel hat Geschichte, doch mit „Herbstmilch“ stürmte eine Lebensbeschreibung aus dem einfachen Volk die Bestsellerlisten.

Biografisch Schreiben für die Familie

Inzwischen haben regionale Erinnerungsbücher Konjunktur. Jeder kann seine Biografie schreiben und im Selbstverlag drucken. Josef Roßmair aus Immelberg im Landkreis Rosenheim hat das getan. Allerdings hat er nicht für den großen Markt geschrieben, sondern für seine Familie. Der 88-Jährige hat zehn Kinder.

"Die Kinder, vor allem die Töchter, haben mir keine Ruhe mehr gelassen, die haben immer gesagt: Vater, schreib doch einmal auf, was du immer erzählst, schreib halt auf, schreib halt auf. Und ich hab mich immer gewehrt. Die Idee, ein Buch zu schreiben, hatte ich nie im Leben. Und dann habe ich also angefangen und hab amal a paar Seiten geschrieben. Und siehe da: dann hat’s mir Spaß gemacht. Auf einmal hat’s mir Spaß gemacht, das ist dann von selber gangen."

Josef Roßmair

Leben aufschreiben als Therapie

Nicht alle, die ihr Leben aufschreiben, denken daran, die Erinnerungssplitter auch zu veröffentlichen. Schreiben hat eine therapeutische Wirkung: Was ich dem Papier übergebe.

Die fränkische Schriftstellerin Ingeborg Höverkamp

Autobiografisch Schreibende treffen sich in Nürnberg im Caritas-Pirckheimer-Haus zum Seminar "Die Heilkraft der Erinnerung". Sie lernen dort - angeleitet von der Schriftstellerin Ingeborg Höverkamp-, auf dem Papier abzuladen, was sie im Leben bedrängt. Oft geht es darum, durch das Schreiben ein Trauma zu überwinden.

"Beim Schreiben kommen mir ja oft so Gedanken, dass meine Großmutter, mit der ich immer auf Kriegsfuß stand, dass ich die jetzt auf einmal verstehen kann. Ich kann jetzt auch meinen Vater verstehen, den habe ich auch lange Jahre nicht verstehen können, warum er so geizig war, es war nicht sparsam, sondern geizig, und meine Oma, die kann ich am allerbesten verstehen, und da hab ich eine eigene Geschichte geschrieben: Meine Oma Käthe."

Renate Wening

Geleitet wird der Kurs von Ingeborg Höverkamp. Die Schriftstellerin wurde jahrelang selber von Alpträumen geplagt, bis sie sich in ihrer Autobiografie "Zähl nicht, was bitter war" frei schrieb.

Im Mittelpunkt der Geschichte Ihrer Familie steht Ingeborg Höverkamps Alter Ego Felicitas. Die ist schließlich in einer Zeitreise unterwegs mit ihrem Onkel Rudolf, einem ganz jungen Mann. Der echte "Onkel Rudolf" hieß Waldemar und fiel an Ostern 1944 an der Ostfront vor Tarnopol. Er wurde nur 18 Jahre alt. Dokumente und Zeitgeschichte, Träume und Ängste, Vermutungen und Ideen: All das webt sie kunstvoll zusammen zu einem phantasiedurchstömten literarischen Gewebe. Ganz bewusst sagt sie nicht "ich" im Roman, sondern gibt sich den Namen Felicitas. Das ist lateinisch und bedeutet: Glückseligkeit.

"Es ist sehr wichtig, eine gewisse Distanz zur eigenen Autobiografie zu entwickeln. Diese Figur hat einen großen Teil meines Ichs. Und doch ist sie eben nicht ich. Ich habe ihr manchmal Freiheiten gelassen, die ich mir vielleicht nicht selbst zugestanden hätte."

Ingeborg Höverkamp

Biografisch schreiben als Mission

Manche wollen auch die Gesellschaft verändern, wenn sie ihre Biografie veröffentlichen, wollen verändern, aufrütteln. Maximilian Huttner aus Miesbach ging es so, als er seine Biografie aufschrieb.

"Ich bin auf die Welt gekommen als kleines Kind, damals wurde mir eine Zystenniere entfernt, ich habe halt nur eine Niere seit der Geburt und ein Loch im Herz, ja."

Maximilian Huttner

Autobiograf Max Huttner mit Freunden und Schwester

Max Huttner hat ein außergewöhnliches Leben. Mit dem Loch im Herzen kann er leben, sagen die Ärzte. Mit 25 Jahren stellten sie bei ihm zusätzlich eine Unterart der Krankheit Parkinson fest. Damit dürfte Max – oder Maxi, wie ihn Freunde nennen, einer der jüngsten Parkinson-Patienten weltweit sein. Auf diese Krankheit wollte er aufmerksam machen, das heißt: eigentlich darauf, dass man das Leben nie aufgeben soll und es sich immer lohnt, zu kämpfen.

Der Markt für private Biografien und Biografen

Andreas Mäckler aus Kaufering bei Landsberg am Lech ist Biograf von Beruf. Nicht irgendeiner. Er hat das Deutsche Biographiezentrum gegründet und leitet es bis heute.

Er versteht sich als professioneller Autor, als Handwerker und als Dienstleister. Wer bei ihm eine Biografie bestellt, muss pro gedruckter Seite 50 bis 70 Euro hinblättern. Bei einem Buch von 100 bis 200 Seiten macht das im Schnitt 10.000 Euro.

Diese Privatbiografien sind Mäckler eigentlich die liebsten. Denn die schreibt er für Kunden, die sich auf das fertige Buch freuen – und nicht unter Preisdruck für Verlage oder für einen anonymen Markt.

Berufsbiograf Andreas Mäckler mit Katze an seinem Schreibtisch

Seine Texte tippt Mäckler am Schreibtisch, und zwischen Tastatur und Bildschirm liegt noch etwas – besser jemand: Seine Katze hat hier ihren Lieblingsplatz.

"Ich finde das sehr schön. Es macht mir immer deutlich, wie wichtig oder wie unwichtig das ist, was ich eigentlich tue. Weil ich denke, die Katze, die lebt hier ohne meine Texte, das interessiert die gar nicht. Die möchte gestreichelt werden, die gibt mir aber auch Wärme, Geborgenheit oder Gemütlichkeit."

Andreas Mäckler

Das Geheimnis des Tagebuchs

Geheimnisse und Intimes vertrauen die Menschen noch am ehesten ihrem besten Freund an – oder eben ihrem Tagebuch. Mehr Nähe, als das Selbsterlebte ins Papier zu flüstern, geht nicht. Der Berliner Theodor Schmidt sammelt alte Tagebücher. Öffentlich liest er daraus vor und bewahrt so gelebtes Leben vor dem Vergessen. Einige Tagebücher hat er sogar auf CD gelesen, wie das Tagebuch des Swing-Tänzers Bruno W. aus den Jahren 1937 bis 1939:

"Um halb sieben räumen die Ober erbarmungslos alles ab, und ich fahre mit Gattin nachhause, habe die Liebeskellerschlüssel, und um acht gehen wir in den Keller. Nach so ein bisschen Knutschen und so – das Andere geschieht auch wieder, ich will es aber von heute an bestimmt nicht mehr tun – schlafe ich ein. Sie auch. Das Aufstehen fällt verdammt schwer. Und so rappeln wir uns um halb zwölf glücklich auf, und ich bring sie zur U-Bahn. Ich kann nur sagen: Der Tag ist 100-prozentig gelungen!"

Aus dem Tagebuch des Swing-Tänzers Bruno W.

Warum schreiben Menschen ihr Leben auf? Weil sie wollen, dass etwas bleibt von ihrem Leben. Sie schreiben für ihre Familie, sie schreiben, um Alpträume zu überwinden, um die Welt zu verbessern.

Sie wollen sich vergewissern, dass sie waren, dass sie sind, dass sie sein werden. Die wenigsten, die ihr Leben aufschreiben, tun es, um Geld zu verdienen. Aber ihre Erinnerungen und Gedanken in Biografien und Tagebüchern haben eines gemeinsam: sie sind es wert, bewahrt zu werden.


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