Bayern 2

     

16

Die Mitte Europas ist ein buntes Flickwerk aus Randstücken Zu Fuß vom Nordkap heim in die Oberpfalz

Der Schriftsteller Harald Grill lebt in der Oberpfalz. Mit dem Flieger reiste er ans Nordkap, und machte sich zu Fuß auf den Heimweg nach Regensburg. Jetzt legt er Maß an mit Beobachtungen und Erlebnissen, die er in den anderen Regionen Europas gemacht hat.

Von: Harald Grill

Stand: 23.03.2023 | Archiv

Ich geh nicht gern fort von daheim. Anders herum wird ein Schuh draus: Seit Juli bin ich vom Nordkap aus unterwegs durch die Regionen Europas zu meiner Heimatregion Oberpfalz. Eines meiner inneren Ziele ist es, das Loslassen zu lernen. Meine Vorstellung: Wenn ich zu Fuß unterwegs bin, kann ich nur das Allernotwendigste mitnehmen. Ich hänge weniger an überflüssigen Dingen und bin ganz bei mir.

Auf einem Lastschiff gen Heimat

Im Dezember habe ich bei Dresden die Elbe erreicht, wo mir im Hafen ein tschechischer Lotse die Mitfahrt auf einem tschechischen Lastschiff zur böhmischen Grenze vermittelt. Am Abend legen wir an, dann gibt es ein zusätzliches Tagegeld für meine vier Begleiter. In der Kajüte stimmen sie tschechische Volkslieder an. Viele Melodien kenne ich als Pop Songs. Eine stammt von den Beach Boys: Sloop John B. Den Refrain brumme ich auf Englisch mit: I wanna go home – let me go homeI wanna go home… Ja, genau – das passt zu mir, ich bin doch auf dem Heimweg!

Zweisprachige Regionen: Finnland, Tschechien und die Lausitz

Weiter geht’s entlang der Südseite des Erzgebirges zur bayerischen Grenze. Ich brauche keine Landkarte. Meine Augen genügen. Leitlinien sind für mich Flussläufe und Gebirgszüge. Ich durchquere das einstige Gebiet der sudetendeutschen Minderheit. Die Orte an meinem Weg tragen deutsche und tschechische Namen: Karlsbad und Karlovy Vary, Falkenau und Sokolov, Eger und Cheb. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gehörten sie zum Habsburger Reich, danach zur Tschechoslowakei, blieben aber zwischen den beiden Weltkriegen zweisprachig, grad so wie Finnlandschweden in Finnland oder die Sorben in der Lausitz.

Kein Dialekt, keine Trachten – nur verfallene Häuser

Nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben die Tschechen die Deutschen. In den leerstehenden Orten gab es Neuansiedlungen von Roma und Slowaken. Die langsam gewachsenen regionalen Traditionen verschwanden: kein Dialekt, keine Volkslieder, keine Trachten, nur viele verfallene Häuser. Die schauen aus wie reife Birnen, die von Wespen leergefressen wurden, bis nur noch die Schale übrig war. Die alten Familiengeschichten lassen sich nur erahnen. Die vertriebenen Sudetendeutschen werden heute in Bayern neben den Altbayern, Schwaben und Franken als vierter Stamm bezeichnet.

Die Eger – meine Begleiterin

Eine Wiederholung – das habe ich schon beim Braunkohletagebau Schwarze Pumpe bei Hoyerswerda in der Lausitz entlang der polnischen Grenze gesehen: aufgerissene, öde Landschaften. Dann endlich wieder ein Flussufer: von der bayerischen Grenze her fließt mir die Eger entgegen. Sie wird meine neue Begleiterin.

Begegnung mit Bohumil Hajek in Falkenau

Nah der bayerisch-böhmischen Grenze zwischen Falkenau und Eger überholt mich ein Radfahrer. Bohumil heißt er, Bohumil Hajek. Er hat es nicht eilig, bietet an, mich zu einem Gasthof zu bringen, der Zimmer zum Übernachten anbietet: Bílého koníka – „Weißes Pferd“. Ich lade ihn zum Essen ein. Er erzählt, dass er mit seinem Bruder eine Erfindung zum Geschäftsmodell ausgebaut hat. Sie drehen aus Holzwolle Seile, die sie paraffinieren und zerhacken. Diese Stücke verkaufen sie als Holz-Anzünder. Mit der Vorsilbe „Bio“ hört sich das viel besser an: „Bio-Feueranzünder". Das ist etwas für die Reichen, die nicht mehr wissen, was sie mit ihrem Geld machen sollen, meint das Schlitzohr. Die Produktion lief so richtig an, als er einen Rentner getroffen hat, der war aus der Nähe von Eger, aber auf der deutschen Seite. Der hat gesagt, dass er selbst einmal so ähnliche Anzünder produziert hat. Da hat ihm Bohumil seine Maschine abgekauft.

Das Schönste an Falkenau? Das Schwimmbad!

Ich frage ihn: "Was ist das Schönste in Falkenau?" Er überlegt nicht lange. "Das Schwimmbad!" Wie bitte?

"Das ist eine Sportart, wo man sich frei bewegt, schwebt, liegt, und daher bin ich so ein bisschen abhängig geworden. Als ich in der Slowakei studiert habe, da hab ich mir das ausgesucht, weil dort eine Schwimmhalle war, also 50 Meter, eine große Schwimmhalle, das war nach Bratislava die einzige in der Slowakei damals. Das war für mich das Paradies. Sokolov hat ein Schloss, das ist der zweite schönste Punkt in Sokolov mit der Bibliothek und ein paar Computern, wo man sich halt ans Internet anschließen kann. Das war alles gratis damals, bis heute. Freier Zugang zum Internet für kein Geld. Das war eine Errungenschaft, die man gar nicht erwartet hat."

Bohumil Hajek

Seine dritte große Leidenschaft ist die Rechtsberatung. Er hat mit Vierzig in Pilsen Jura studiert, weil es ihn geärgert hat, dass ihn deutsche Abnehmer der Bio-Feueranzünder übers Ohr hauen wollten. Jetzt berät er nebenbei tschechische Landsleute, die ähnliche Erfahrungen machen mussten.

Bleibt denn da noch Zeit fürs Familienleben? Bin noch nicht verheiratet, es wird höchste Zeit für eine Familie, sagt er und legt die Stirn in Falten. In der Nacht kommt eine E-Mail von Bohumil Hajek.

"Eine Geschichte noch: Nicht nur Russen haben Uhren gestohlen. Mit dem Recht der Sieger haben nach dem Krieg auch junge Tschechen Wertsachen bei der deutschen Zivilbevölkerung gestohlen. Man hat sie Rote Garden genannt, im Volksmund auch Raub-Garden. Meine Tante Inge in Sokolov ist Zeuge. Damals war sie nur mit der Mutter in der Wohnung. Zwei junge Männer haben alles durchsucht und die vergoldete Konfirmationsuhr meiner Tante gestohlen. Einer der Täter war der spätere Lehrer Václav Němec. Nach der Wende hat er ein Büchlein über Vertreibung der Deutschen geschrieben. Ich habe es nicht gelesen."

Bohumil Hajek

Tschechisch – eine verdammt schwierige Sprache?

Je näher ich zur Grenze komme, desto mehr Tschechen sprechen fließend Deutsch. Das macht Sinn, denn sie können auf beiden Seiten der Grenze arbeiten oder Geschäfte machen. Ich habe während der vergangenen Tage versucht unter Umgehung der Grammatik wenigstens mir einige Wörter zu notieren: die Namen der Wochentage, die im Hotelzimmer auf einem Kalender stehen. Montag: pondělí, Dienstag: úterý, Mittwoch: středa, Donnerstag: čtvrtek… In Eger grüße ich in der Wirtschaft auf Tschechisch um zu zeigen, dass ich mich um tschechische Sprachkenntnisse bemühe. „Dobry vecer, guten Abend!“ Gott sei Dank, der Wirt lobt mich: „Du sprichst gut Tschechisch!“ „Bei aller Sympathie für mein Nachbarland, Tschechisch ist eine verdammt schwierige Sprache“, sage ich. „Ach wo, das sprechen bei uns schon die kleinen Kinder!“, sagt er und reibt sich verschmitzt seinen Dreitagebart. „So viele Mitlaute, kaum Selbstlaute, wie soll ich das als Ausländer aussprechen können“, entgegne ich, „das Wort für Donnerstag čtvrtekhat sechs Konsonanten und nur einen Vokal.“ „No ja“, meint er, „schau dir die Buchstaben an von dem Wort BRATPFANNE!“ „Das stimmt schon: sieben Konsonanten und drei Vokale.“ Noch ein Wort: Gestern habe ich mit einem Stein eine Hagebutte ZERQUETSCHT. Noch vor dem Einschlafen schreib ich weitere deutsche Wörter, die viele Mitlaute haben, in mein Notizbuch: FLUCHTWEG, NACHTTISCHSCHUBLADE, in der früheren DDR gehört zum neuen Wortschatz: RÜCKÜBERTRAGUNGSANSPRÜCHE.

Uranabbau im Grenzgebiet

Die Grenze. Nach Süden hin tut sich der Blick auf den Tillen auf. Das ist der nördlichste Berg des Böhmerwaldes. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden entlang der Grenze auf tschechischer Seite mehrere Bergwerke zur Förderung von Uran für die sowjetischen Atombomben. 1956 vergab Franz Josef Strauß, damals Bundesminister für Atomfragen, die Uranschürfrechte für die Oberpfalz. Versuchsbergwerke in Mähring oder Poppenreuth brachten keine nennenswerten Ergebnisse, also änderte Strauß in seiner Funktion als Bayerischer Ministerpräsident die Pläne für den heimischen Uranabbau und favorisierte eine Anlage zur Wiederaufbereitung abgebrannter Kernbrennstäbe in Wackersdorf. Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Die Bundesregierung ist nach dem Atomausstieg nur noch auf der Suche nach einem sicheren atomaren Endlager.

Madonna mit Einschusslöchern

Auf dem nördlichsten flachen Ausläufer des Böhmerwaldes steht die Wallfahrtskirche Maria Loreto. Sie drohte zu verfallen und wurde nach der Wende von gebürtigen Egerländern renoviert. Allein die Muttergottesstatue über dem Eingang weist noch Einschusslöcher auf. Spuren von Schießübungen der roten Garden.

Eine der ältesten Grenzen in Mitteleuropa

Am Fußgänger-Grenzübergang Altkinsberg begrüßt mich eine Abordnung von Oberpfälzern, darunter der stellvertretende Bezirkstagspräsident Ludwig Spreitzer. Er überreicht mir eine Medaille mit der Abbildung des Klosters Waldsassen. Ich habe die europäische Hauptwasserscheide und damit eine der ältesten Grenzen in Mitteleuropa überschritten. Alle Flüsse fließen jetzt nach Süden zur Donau und weiter zum Schwarzen Meer. Einzige Ausnahme die Wondreb – oberpfälzisch die Woundra. Sie entspringt im Böhmerwald, macht einen weiten Bogen nach Bayern und überquert die Grenze bei Waldassen um bei Eger in die Eger zu münden.

Europas Dörfer ähneln einander

Waldsassen

Ich spaziere durch eine Gegend, die ich kenne und die für mich mit Geschichten besetzt ist. Das verstellt mir den Blick für Neuentdeckungen. Ich vergleiche immer öfter das, was ich sehe, mit allem, was ich bisher auf meiner Reise gesehen habe. Es kommt mir vor, als hätte ich die Regionen Europas mit Schritten vernäht. Dabei fällt mir auf, dass die Metropolen aller Länder sich gleichen. Ebenso wie die Dörfer aller Länder sich viel mehr gleichen als ein Dorf einer Stadt im gleichen Land.

Den Gesang der Schwestern im Kloster Waldsassen hab ich noch im Kopf, als ich längst den felsengesäumten Weg durchs Waldnaabtal gefunden habe. Der markanteste Punkt von Falkenberg ist eine mittelalterliche Burg. Sie thront auf Wollsackfelsen, die wie gigantische Matratzen steil aufeinandergetürmt sind. Der Diplomat und Widerstandskämpfer Friedrich Werner von der Schulenburg, hatte die Burg in den 1930er Jahren als Altersruhesitz erworben.

Zoiglbier aus dem Kommunbrauhaus

Unterhalb der Burg, direkt am Ufer der Waldnaab, ein kleines Haus. Zuerst denk ich: das ist ein Feuerwehrhaus. Aber es kommt Rauch aus dem Kamin. Bei näherem Hinsehen entdecke ich an der Wand ein Schild, auf dem steht: Kommunales Brauhaus. Die Neugierde treibt mich auf die „Brau-Bühne“. Ich betrete sie durch ein Holztor von der Größe eines Garagentors. Dampf schwallt mir entgegen. Heute braue er mit einigen privaten Brauern das berühmte Zoiglbier, sagt der Braumeister. Er hat das Gerstenmalz und den Hopfen besorgt und weist den Brauern ihre Tätigkeiten zu. In Schweden wäre das Kommunbrauhaus ein Museum, eine historische Brauerei, die noch in Betrieb ist.

Der oberpfälzer Zoigl ist ein nach dem bairischen Reinheitsgebot gebrautes, untergäriges, naturtrübes Bier. In den Sud darf nur Gerste, Hopfen, Wasser und Hefe. Er verlässt das Brauhaus allerdings nicht als Bier, sondern als gekochte Würze, die an die Keller gebracht und zum Ausreifen mit Hefe versetzt wird. Der Ausschank erfolgt in den Zoiglstuben, ähnlich wie in den Häcker- und Buschenwirtschaften der Weinbaugebiete. Die Brauer reichen dazu Eigenprodukte, von der Kartoffelsuppe zum Presssack und zum Geselchten. Der Wirt zeigt den Ausschank mit dem Aushang eines sechszackigen Sterns über der Haustür an. Das ist das alte Zunftzeichen der Brauer und Mälzer. Das Wort Zoigl stammt übrigens vom nordbairischen Dialektwort für „Zeiger“. Der zeigt an: Hier ist eine Zoiglstube.

Nachdem ich mir ein Zimmer besorgt habe, geh ich in eine Zoiglstube. Sofort umfängt mich der Dialekt der Nordoberpfalz. Ich kann ihn nicht so ohne weiteres sprechen. Aber ich verstehe alles und mag den Klang. In Falkenberg haben über hundert Häuser ein verbrieftes Braurecht. Ungefähr dreißig nehmen es regelmäßig in Anspruch. Drei Regeln gibt’s zum Beachten, wenn ma einegeijt: Erstens es heißt nicht das sondern der Zoigl, zweitens die richtige Anrede heißt DU, drittens hier kann niemand reservieren, nicht einmal der Papst oder der Ministerpräsident, wer früher kommt, ist eher da. Der Zrenner Eduard, Jahrgang 1938, seines Zeichens Altbürgermeister von Falkenberg, erzählt, wie die Zoiglstube früher ausgeschaut hat.

"Frejas wars a so, dass as Wohnzimmer aasgraamt wordn is. Da war rundumme a Bank, dann san a poar alte Tisch und Stühl einegstellt wordn, und dann war des die Zoiglstubn."

Eduard Zrenner

Die Oberpfälzer – mitnichten ein wortkarger Menschenschlag

Der Waldnaab-Wanderweg

Weiter geht‘s durchs enge Waldnaabtal, vorbei an bizarren Felsformationen. In Windisch-Eschenbach fängt es an zu schneien. Die Autobahn und die Eisenbahnstrecke Hof – Regensburg queren meinen Weg. Die Autos kommen mir heute besonders fremd vor, sogar aggressiv. Manche behaupten, dass die Oberpfälzer ein wortkarger Menschenschlag seien. Das sagt man über viele andere Volksgruppen auch: über die Bayerwaldler, über die Mecklenburger, über die Niedersachsen, die Norweger, die Finnen, die Schweden… Ich kann das nicht bestätigen, denn ich komme meistens schnell ins Gespräch mit den Leuten, die mir begegnen. Zeit muss man ihnen lassen und Zeit muss man sich nehmen für sie. Eine weitere Erkenntnis: Die oberpfälzer Hunde bellen genauso so laut wie die tschechischen.

Ein Herz aus Stein – eine Seele aus Granit

Ein Mann, der den nassen Schnee von der Garagenausfahrt schiebt, weist mir den Weg zu einem Naturschutzgebiet. Er nennt es Doost. Ich solle den Weg durch den Wald nach Diepoldsreuth einschlagen. Nach zehn Minuten stoße ich an einem bewaldeten Hang auf das Felsengetümmel des Doost. Unter den aufgetürmten Findlingen ein gluckernder Bach. Bis zu den Bäuchen sind sie in ihm versunken und zeigen mir ihre Hinterteile. Der Schneekehrer meinte vorhin, Doost hätte den gleichen Wortstamm wie „tosen“. Doost –  da steckt doch mehr drin! Kommt das Wort nicht daher wie ein Kosewort? Diese schwermütige Zärtlichkeit! Wenn das oberpfälzische Waldland eine Seele hat, dann muss es der Doost sein. Warum fällt es schwer, sich eine Seele aus Granit vorzustellen? Ein Herz aus Stein, ja. Aber eine granitene Seele?

Der Doost

Doost. In dem Wort schwingt etwas Archaisches mit, weiter und weitergegeben, von denen, die vor uns geschaut und gefühlt haben. Während ich mich von Felsenbummel zu Felsenbummel den Hang hinauf taste, fällt mir der Pergamon-Altar aus dem Berliner Museum ein: Fragmente von Menschenskulpturen, die einander bedrängen. Der Doost ist mein oberpfälzer Pergamonaltar. Die Felsbummeln scheinen in Bewegung geraten zu sein. Sie haben sich aufeinander eingelassen. Der Aufforderungscharakter von Fragmenten ist einer der Ursprünge von Kunst. Die Bruchstücke wollen im Kopf immer wieder neu ergänzt werden. So war das auch mit den Felszeichnungen am norwegischen Alta-Fjord.

Am Ende des Hügelkammes weitet sich der Blick über die Weidener Senke mit dem plötzlich viel zu breiten Tal der Waldnaab. Dahinter erhebt sich in seiner unverwechselbaren Form der auseinandergebrochene Vulkankegel des Parkstein, an den sich das Dorf Parkstein schmiegt. Von dort stammt mein Freund, der Jazzmusiker Norbert Vollath. Er erzählte mir einmal: „Wenn eine Beerdigung war, oder eine Feier, bei der alles umsonst war“, da waren die Leut wie die reichen Römer, die sich mit einer Feder am Gaumen kitzelten, bis sie sich übergeben konnten. Ein oberpfälzer Bauer soll einmal gerufen haben: „Omei, warum kann ich koin Mong hom wai a Kouh!"  

Ein Bayer in Finnland

In Weiden erreicht mich eine E-Mail, das mir Gerhard Schmidt aus dem finnischen Pyhäniemi geschickt hat, wo der gebürtige Bayer mit seiner finnischen Frau und seinen beiden Kindern lebt:

"Die Tage sind in Südfinnland zwar schon recht kurz, doch das stört mich gar nicht. So gegen 9:00 Uhr wird's hell und kurz vor 16:00 Uhr ist es dunkel. In Lahti und allen anderen Städten auch, ist zwar die Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen installiert, doch es gibt hier keine Weihnachtsstimmung. Christkindlmärkte kennt man nicht, somit sind auch so Leckereien wie heiße Maroni, Lebkuchen oder gebrannte Mandeln unbekannt. Glühwein darf man hier ja wegen der mittelalterlichen Alkohohlgesetze nicht öffentlich ausschenken, so riechen finnische Städte im Zentrum nur nach Autoabgasen."

Gerhard Schmidt

Auch bei uns sind die Tage sehr kurz geworden. Lachhaft, verglichen mit der Nordkapinsel. Dort ist seit 18. November nur noch Nacht. Aber zwischen vier und fünf am Nachmittag muss ich mir unterwegs auch hierzulande meine Stirnlampe herrichten.

Als ich die Quellbäche der Naab auf der Karte suche, staune ich über die Vielzahl der Rinnsale, die sich von allen Richtungen her aufs Naabtal zu bewegen. Südlich von Weiden wird aus der Waldnaab ein richtiger Fluss. Sie hat inzwischen die Haidenaab, die Schweinnaab und die Fichtelnaab geschluckt. Ab jetzt heißt sie nur noch: die Naab. In ihrem breiten Tal haben nun Autobahn und Eisenbahnlinie bequem Platz. Im Osten der Böhmerwald, der auf bayerischer Seite auch Oberpfälzer Wald genannt wird. Im Westen das Oberpfälzische Hügelland mit dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr;  dazwischen öffnet sich der Weg nach Süden bis zur Donau und weiter bis zu den Alpen.

Europäische Vernetzungen

Der Bildende Künstler Albert Braun ist der erste Vilsecker, den ich in meinem Leben kennengelernt habe: Und wo? In Finnland! Dort arbeitet er an der Kunsthochschule Nykarleby. Er hat sich vor einigen Jahren mit Frau und Kindern im finnischen Nykarleby nördlich von Vasa niedergelassen, umgeben von viel offenem Land und dem Meer an der Ostseeküste. Dort leben Finnlandschweden, das sind Finnen mit Schwedisch als Muttersprache. Die Schilder in der Stadt sind zweisprachig. Albert Braun hat mir erzählt, dass die Wurzeln seines Fernwehs bis in seine Kindheit am Rande des Truppenübungsplatzes Grafenwöhr reichen.

"Für mich war immer so ein Bild in der Kindheit, man hat immer gehört vom Übungsplatz, mein Vater ist selbst dort geboren und, dass das alles sehr groß ist. Ich hab mir immer vorgestellt, wie sieht’s eigentlich hinterm Übungsplatz aus, also hinter dem Schwarzen Berg. Es war ja kein großer Horizont, den man hatte. Ich konnte mir das nicht so richtig vorstellen, wie es eigentlich dahinter ist."

Albert Braun

In seinen Arbeiten beschäftigt sich Albert Braun künstlerisch mit Projekten, mit denen er sich an den Widersprüchen der „großen“ Welt abarbeitet. Aber der Kontakt nach Vilseck ist nie abgerissen. Er bringt Weltprobleme zurück in den regionalen Raum, dorthin, wo sie ihre Wurzeln haben.

"Man ist eigentlich mit Militär aufgewachsen und Manöver waren auch viel auch außerhalb des Übungsplatzes. Das war natürlich als Kind sehr beeindruckend. Ich hab da sehr viel gezeichnet: Panzer, Soldaten und so weiter. Da gab‘s Sammlungen stoßweise in der Eckbank, teilweise leider weggeworfen worden. Ich meine, es geht nicht nur ums Militär, vor allem sieht man ja die Sache ein bisschen anders. Aber schon der Berührungspunkt zwischen unserer Kultur, dort in der Oberpfalz Vilseck und auch die Einflüsse, die durch die Amerikaner da in unser Städtchen kamen, ist im Nachhinein schon interessant und spannend."

Albert Braun

Nischen für den Wolf – und für den Wanderer

Der letzte Wolf in Deutschland sei im Jahre 1904 nach einem langen Ausrottungsfeldzug erlegt worden. Von wegen. Wie der Truppenübungsplatz Muskauer Heide in der Lausitz gilt auch der Truppenübungsplatz Grafenwöhr als Wolfs-Erwartungsland. Ein Erfolg für das Gleichgewicht in der Natur. Scheinbar ausgerottete Tiere erobern sich Nischen zurück, die sich ihnen auftun. Abgesehen davon haben sich auch für mich Nischen aufgetan. Alles Gepäck trage ich mit mir im Rucksack herum. Und ich habe gelernt: Es reichen ein Anorak, eine Fleecejacke, ein Pullover, zwei Hemden, zweimal Unterwäsche und Socken. Natürlich komm ich nicht dran vorbei, ab und zu ein Hotel-Waschbecken zum Waschtrog umzufunktionieren. Und das moderne Funktionsgwaandl, das ich viel zu voreilig verachtet hatte, trocknet über Nacht. Was will ich mehr?

Die Schwarzach fließt von Waldmünchen her in Richtung Westen und mündet zwischen Nabburg und Schwandorf bei Schwarzenfeld in die Naab. Die Schwarzach sucht sich nicht den kürzesten Weg. Für Schnellstraßenmenschen mag sie mit ihren Mäandern ein Graus sein. Warum eigentlich? Sie gibt der Landschaft übermütig nach wie ein Wanderer.

Schwarzenfeld. Fußnote zur Entstehung des Deutschen Reiches 1870. Max von Holnstein, der „Roßober“, einVertraute von Ludwig II. lebte hier. Er wurde berühmt, weil er Bayern im königlichen Auftrag an Bismarck verkaufte und selbst gut daran verdiente. Auch das eine Fußnote der Geschichte! Und nach ein paar Kilometern gleich noch eine in Schwandorf: dort lebte der Komponist der Bayernhymne: Konrad Max Kunz.

Der Text ist veränderbar. Die Biermösl Blosn persiflierte ihn mit ihrem Lied: „Gott mit Dir, du Land der BayWa“. Es gäbe noch eine interessante, weltoffene Version, mit der eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern der beruflichen Oberschule Bad Tölz einen Wettbewerb zu Gestaltung einer neuen dritten Strophe gewann. Sie wurde leider mit CSU-Mehrheit im Landtag abgelehnt.

Erinnerungen an die Ereignisse um Wackersdorf

Und ein paar Kilometer weiter stellen sich Erinnerungen an die Ereignisse um Wackersdorf ein. Hier hat die Bevölkerung jahrelang mit Protesten den Bau einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage verhindert. Wir waren mit unserer Familie mit den Omas und den Kindern dabei, nicht gern, aber es musste sein: Zuerst besuchten wir die Andacht beim Marterl am Waldrand, danach umkreisten wir mit vielen anderen das Baugelände. Eine Parallele zu den Demonstrationen gegen den Alta-Staudamm in Nordnorwegen.

Brezenmann Reinhard Roth

Weil Radio und Zeitungen daheim oft über meine Wanderung berichten, werde ich unterwegs immer wieder angesprochen. „Ja, der Harold Grüll!“, ruft der Mann im Bäckerei-Verkaufsauto und schenkt mir eine Brezen. Ich erkundige mich nach seinem Namen, es sei doch schöner, wenn einer den Namen vom anderen wisse. Roth heißt er, der Brezenmann, Roth Reinhard!

Bomben auf Schwandorf

Über die gefrorenen Wiesen schlendere ich an der Naab entlang auf das Dorf Bubach zu, das ich aus den Erzählungen des nordschwedischen Oberpfälzers Werner Jäger kenne. Hier hat er als Dreijähriger mit seinem Großvater in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs die Bombenangriffe auf Schwandorf beobachtet.

"Die meiste Zeit meiner frühen Kindheit, da bin ich in einem ganz ganz kleinen Ort gewesen, das ist der Ort Bubach an der Naab. Schwandorf wurde ja 1945 zerstört. Mia san da in Bubach auf am Hügel gstanden, mei Großmutter, mei Großvater, und mia haben a helles Leuchten über Schwandorf gsehng. Und die zentrale Frage war: Soll ma uns auf n Weg macha oder net?"

Werner Jäger

Werner Jäger ist ausgebildeter Physiotherapeut und Spezialist für Rehabilitation. In dieser Funktion war er seit den 1960er Jahren im nördlichen Schweden tätig. Vielleicht war der Großvater insgeheim der Impulsgeber für die Berufswahl seines Enkels.

"Er war der letzte approbierte Bader in Bubach. Er war ja Veterinär, er war Zahnarzt, des war immer s Schlimmste. Da hat die Großmutter helfen müssen, wenn er Zähn zogn hat. Und des hat mi vielleicht scho, naja, ich hab des scho immer von der Seite gsehng. Und was er am meisten ghabt hat, des waren Leute mit Ohrenschmerzen. Da hat er immer Wasserstoffsuboxid  gnomma und s Glycerin, des waren die meist gefragten Hausmittel. Am schönsten is gwen, wenn i mit ins Wirtshaus hab gehen könna, zum Keller runter in Bubach da. Da san die Leit drin gsessen, a schöne kühle Wirtschaft, und da hat ma scho a Kracherl kriagt."

Werner Jäger

Der Goldene Löwe

Am Abend werde ich in Kallmünz eines der schönsten Wirtshäuser Europas erreichen: den Goldenen Löwen. Es wird eine Veranstaltung geben, bei der ich von meiner Reise erzähle. Am Tag drauf habe ich noch eine Tageswanderung vor mir und mein Spaziergang vom Nordkap nach Regensburg wird beendet sein. Auf einmal nähern sich von der Naab her über die vereiste Wiese ein paar Jäger. Gut hundert Meter sind sie noch entfernt von mir. Jetzt stoßen sie in ihre Jagdhörner. „Omeiomei, eine Treibjagd!“ denk ich, „nix wie weg!“

Empfang mit Saxophon und Bassklarinette

Von wegen Jagdhörner! Der Hans, der Künstler, und der Norbert und der Mike, die Musiker-Freunde kommen mit Saxophon und Bassklarinette auf mich zu. Sie wollten die ersten sein, die mich daheim begrüßen. Der Hans, der im böhmischen Falkenau zur Welt kam und dort seine frühe Kindheit verbrachte, lebt seit vielen Jahren in einem alten Bauernhof am Rande des aufgelassenen Braunkohletagebaus bei Wackersdorf. Er ist mit seiner Familie dort eingezogen, mit der Aussicht nur ein Jahr bleiben zu dürfen, so lange bis die Braunkohlegrube erweitert und die umliegenden Höfe abgerissen worden wären. Sie wurde nicht erweitert, sondern geflutet zu einem Naherholungssee. Aus dem einen Jahr ist ein Leben geworden. Der geplante Bau der Atomfabrik bei Wackersdorf hat die Beendigung des Braunkohle-Abbaus beschleunigt. Eine Wiederholung der Wiederholung: Braunkohlentagebau in der Lausitz, dann in Nordböhmen und endlich hier bei Wackersdorf in der Oberpfalz.

Gegen den Strom schwimmen

Eine Legende: In Mariaort nah der Mündung der Naab in die Donau wurde vor Jahrhunderten auf einer Kranawittstaude eine Muttergottesstatue angeschwemmt. Sie war von Ungläubigen ins Schwarze Meer geworfen worden. Die Muttergottes über dem Eingang zur Wallfahrtskirche Maria Loreto an der bayerisch-böhmischen Grenze, die den Soldaten als Schießziel diente, konnte nicht gegen den Strom schwimmen. Sie kündet mit den Einschusslöchern von den Untaten des Zweiten Weltkrieges.

Über Freundschaften und das Loslassen

Die beiden Türme des Regensburger Doms sind sich nah und haben doch Abstand voneinander… Was ist Freundschaft? Wie viele Begegnungen unterwegs münden in Freundschaften? Wie viele Freundschaften kann ich auf die Dauer pflegen? Es geht auch bei den Freundschaften ums Loslassen…

Daheim erwarten mich Berge von Päckchen mit Steinen, Büchern, Foto- und Interview-CDs auf mich. Mein großes Ziel, das Loslassen zu lernen, habe ich nicht erreicht. Was das angeht, bin ich gescheitert. Trotzdem: Ich kann mir kein schöneres Scheitern vorstellen.


16