Bayern 2

     

33

Strecke 46 Die vergessene Autobahn

"Strecke 46" hieß die Trasse, die mit zu den ersten Autobahnprojekten in Deutschland gehörte. Sie sollte von Bad Hersfeld bis nach Würzburg verlaufen, wurde aber nie vollendet. Heute ist sie ein einzigartiges Zeugnis deutscher Verkehrsgeschichte.

Von: Klaus Rüfer

Stand: 13.07.2020 | Archiv

Die A7 ist heute eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen in Deutschland. Täglich rollen rund 40.000 Fahrzeuge über diese Fernstraße im Norden Unterfrankens. Mit 962 Kilometer ist sie die längste deutsche Bundesautobahn und die zweitlängste durchgehende nationale Autobahn Europas.

"Strecke 46": eines der ersten Autobahnprojekte in Deutschland

Nur wenige Kilometer weiter westlich liegen die Überreste des Urahns dieser A7 im Wald versteckt. "Strecke 46" hieß die Trasse, die mit zu den ersten Autobahnprojekten in Deutschland gehörte. An dieser "Strecke 46" bei Gemünden am Main herrscht idyllische Ruhe. Kein Auto kann die Strecke befahren, auf keiner Straßenkarte ist diese Autobahn verzeichnet, kein Navigationsgerät kennt diese Route. Sogar die Trasse selbst ist in der Landschaft kaum zu erahnen. Was heute kaum mehr jemand weiß: Über die Strecke 46 sollten vor nun fast 80 Jahren einmal Zehntausende Autos fahren. 1937 beginnen die Bauarbeiten für das rund 70 Kilometer lange Autobahn-Teilstück. Aber bereits 1939, kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, werden die Arbeiter wieder abgezogen. Und sie werden nie zurückkehren. Nur rund 30 Kilometer zusammenhängende Autobahn-Trasse sind bis dahin gebaut worden.

Die Reichsautobahnen der Nationalsozialisten

Blick zurück in die 1930er-Jahre: In Deutschland haben die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Ein Projekt, das das Regime alsbald ankündigt, ist der Bau eines völlig neuen Straßentyps. Die Technokraten in Berlin wollen das Reichsgebiet mit einem Netz damals in Deutschland noch unbekannter Kraftfahrstraßen überziehen – den Reichsautobahnen. Fritz Todt, der Bauingenieur und SA-Gruppenführer, der unter den Nazis als Generalinspektor für das Straßenwesen im Dritten Reich Karriere macht, kündigt das ehrgeizige Bauprojekt mit markigen Worten an.

"Die Bauarbeiten bringen Arbeit größten Ausmaßes auf lange Sicht. 250.000 Arbeiter der Stirn und der Faust finden auf sieben Jahre Beschäftigung. Dem Kraftverkehr bringen diese Reichsautobahnen endlich Straßen, die der technischen Entwicklung des Kraftwagens entsprechen."

Fritz Todt, Generalinspektor für das Straßenwesen im Dritten Reich

Hitler hat die Autobahn erfunden? "Das stimmt hinten und vorne nicht"

"Nach dem Willen des Führers" – so die damalige Propaganda – soll das Deutsche Reich von einem ganzen Netz dieser neuartigen Straßen überzogen werden. "Die Nationalsozialisten haben die Autobahn erfunden, wohl sogar Adolf Hitler höchst persönlich!" Diese Auffassung ist selbst in der heutigen Zeit noch weit verbreitet. Doch arbeitet man den deutschen Autobahnbau historisch korrekt auf, ergibt sich ein völlig anderes Bild.

"Hitler hat die Pläne geklaut, die Vereine vorher privat erstellt haben. Er hat eine riesige Propaganda-Aktion daraus gemacht. Und Synonym ist ja 'Straßen des Führers', aber das stimmt hinten und vorne nicht."

Dieter Stockmann, Beamter im Landratsamt Main-Spessart

Die Ursprünge der deutschen Autobahnen …

Dieter Stockmann ist Beamter im Landratsamt Main-Spessart – und ein profunder Kenner der Geschichte der Ursprünge des deutschen Autobahnwesens. Bei seinen Recherchen zur historischen Strecke 46 ist er auch auf die Ursprünge der Grundidee gestoßen, spezielle und völlig neu konzipierte Kraftfahrstraßen zu entwickeln. Überlegungen dazu gibt es lange vor den Nationalsozialisten. Und das nicht von staatlicher, sondern von privater Seite. Das Straßennetz im Deutschland der 1920er-Jahre ist dem stetig zunehmenden Autoverkehr kaum noch gewachsen. Aus Wirtschaft und Handel kommen daher die ersten Denkanstöße für moderne und leistungsfähigere Verkehrswege. Es entstehen sogar Vereine, die sich mit der zielgerichteten Entwicklung der deutschen Verkehrsinfrastruktur befassen. Und von diesen Vereinen werden dann auch die ersten konkreten Autobahn-Pläne ausgearbeitet.

"Man hat neue Straßentypen, neue Regeln erstellt. Das alles gab es früher nicht. Während der Weimarer Republik, als die besagten Vereine dann angefangen haben zu planen, war es so: Man hat halt angefangen, eine Autobahn zum Beispiel von München nach Berlin zu machen, eine von Hamburg über Frankfurt nach Basel."

Dieter Stockmann, Beamter im Landratsamt Main-Spessart

… reichen bis in die Weimarer Republik zurück

Wenn auch zunächst nur auf dem Papier – die später so berühmte deutsche  Autobahn ist geboren. Die Pläne lagen seit der Weimarer Republik quasi in der Schublade bereit. Die Nazis greifen nur zu und verkaufen die Idee dann in ihrer Propaganda öffentlichkeitswirksam als ihre eigene. Doch allenfalls das Konzept, ein ganzes Autobahn-Netz im Reich zu errichten, entstammt den Planungen der Nationalsozialisten. Als Teil einer Nord-Süd-Verbindung ist so letztlich auch die Strecke 46 im hessisch-bayerischen Raum projektiert worden.

"Geplant war die Strecke von Bad Hersfeld nach Würzburg. Das heißt also, ab nördlich von Bad Brückenau geht es dann über Ortschaften wie Weißenbach, Gräfendorf, Gemünden, Karlstadt, Zellingen bis nach Würzburg Kist. Und in Würzburg Kist wäre dann eine andere Strecke, die 40, dazu gekommen, Richtung Süden. Das heißt also, man hätte damals von Kiel durchaus über die Strecke 46 bis nach Stuttgart fahren können."

Dieter Stockmann, Beamter im Landratsamt Main-Spessart

Was von der Strecke 46 übrig blieb

Ein recht frischer März-Sonntag. Der Gemündener Bürgermeister Jürgen Lippert hat zur Führung eingeladen und rund 50 Interessierte haben sich eingefunden. Jürgen Lippert stammt selbst aus Seifriedsburg. Anders als viele aus der Gegend, kennt der Bürgermeister die rund 80 Jahre alten Relikte in der Seifriedsburger Flur schon seit seiner Kindheit sehr genau: die Überreste der alten Autobahn "Strecke 46".

"So, wir sind jetzt direkt an der Trasse, der Strecke 46. Jetzt werden sie sagen: Man sieht ja gar nichts!? Man muss genau hinsehen, dann sieht man was."

Jürgen Lippert, Bürgermeister Gemünden

Bürgermeister Lippert und die Wandergruppe stehen buchstäblich im Wald. Auf den ersten Blick erinnert hier wirklich so gar nichts an eine Autobahn. Doch wie Jürgen Lippert sagt: Man muss nur genauer hinschauen.

"Wenn sie sich die Bäume anschauen, dann wird es vielleicht etwas deutlicher. Hier ist alles voller Laubbäume und hier ist alles voller Nadelbäume. Also dieser Nadelbaumbereich, das ist genau diese Strecke 46."

Jürgen Lippert, Bürgermeister Gemünden

Erst mühsam gerodet – dann wieder aufgeforstet

Tatsächlich erkennt man es nun deutlich: Quer durch den Wald zieht sich ein etwa 50 Meter breites Band dichtstehender Nadelbäume. Sie stehen dort, wo einst die Fahrbahnen der Strecke 46 hätten verlaufen sollen. Was später mit Fichten wieder aufgeforstet wurde, das war Jahre zuvor mühsam gerodet worden – auf Anordnung der Staatsmacht. Nach der Rodung musste noch der Mutterboden abgetragen und links und rechts der Trasse aufgehäuft werden, als Grundlage für spätere Begrünungsmaßnahmen. Dann konnten die eigentlichen Bauarbeiten beginnen.

Katastrophale Zustände für die Arbeiter

Vor allem zu Beginn der Bauarbeiten herrschen große Missstände. Das Regime hat private Unternehmen beauftragt. Doch es zeigt sich schnell: Diese Firmen sind mit der Organisation solch großer Baustellen zunächst völlig überfordert. Unterbringung und Verpflegung der benötigten Arbeitskräfte sind teils katastrophal. Allein schon die große Anzahl der Arbeiter jeweils vor Ort bereitet große Probleme – auch an der Strecke 46.

"Man kann damit rechnen: circa 4500 Menschen, die direkt hier gearbeitet haben, an dieser einzelnen Baustelle hier in Bayern, Hessen kommt noch dazu, aber die Zahlen gibt es nicht mehr. Und dann müssen sie noch ungefähr 3000 bis 3500 Arbeiter in den Zulieferwerken noch dazu rechnen."

Dieter Stockmann, Beamter im Landratsamt Main-Spessart   

Erstmals kümmern sich Bauunternehmer um soziales Wohl ihrer Arbeiter

Die Arbeits- und Lebensbedingungen für die Bauarbeiter sind anfangs so prekär, dass es sogar zu Streiks an den Baustellen kommt. Und die Arbeitsniederlegungen verfehlen ihre Wirkung bei den Verantwortlichen für des Führers Prestige-Projekt nicht: Die Autobahn-Baustellen werden völlig neu organisiert. Und vor allem: Die Bauunternehmer werden in die Pflicht genommen.

"Da die Arbeiter aus ganz entfernten Gegenden gekommen sind, wurden die untergebracht, man hat also Barackenlager erstellt. Das klingt jetzt auf den ersten Blick sehr negativ, war aber im Vergleich zu der sozialen Situation der Arbeiter im beginnenden 20. Jahrhundert ein revolutionärer Sprung, weil sich zum ersten Mal überhaupt der Bauunternehmer um die Unterkünfte und das soziale Wohl seiner Arbeiter kümmern musste. Er musste Schlafplätze zur Verfügung stellen, Waschplätze, ausreichend Essen, sanitäre Einrichtungen, eine Dusche gab es damals auf der ganzen Welt nicht. Deshalb gab es unheimlich viele Kommissionen, die hierhergekommen sind und sich diese Sachen mal angeschaut haben."

Dieter Stockmann, Beamter im Landratsamt Main-Spessart

Überreste stehen unter Denkmalschutz

Heute sind die meisten der 80 Jahre alten Autobahnbauwerke immer noch da. Nicht zuletzt der hohen handwerklichen Qualität der Arbeiten ist es zu verdanken, dass sie die Jahrzehnte bestens überstanden haben – und auch wohl noch lange bestehen werden: Die Relikte stehen seit 2003 unter Denkmalschutz. Vor Ort zeigen Schautafeln Originalaufnahmen aus der Zeit der Bauarbeiten. Die Fotografien belegen: Seinerzeit kamen kaum Maschinen zum Einsatz, stattdessen aber viel Muskelkraft. Daran kann sich auch noch ein alter Seifriedsburger gut erinnern. Konrad Hahn war sechs Jahre alt, als die Arbeiter 1937 in sein Dorf kamen und oberhalb des Ortes die Bauarbeiten begannen. Oft war der kleine Konrad direkt an der Baustelle mit dabei.

"Naja, also ich habe dadurch viele Erinnerungen, weil mein Vater Pferde hatte und er hat mit den Pferden da immer Arbeit gekriegt und da bin ich halt als Büble mitgefahren."

Konrad Hahn, Zeitzeuge

Pferde und Muskelkraft – statt Maschinen

Die Pferde wurden gebraucht, um die schweren Abraum-Loren zu bewegen, erinnert sich Konrad Hahn. Das herausgesprengte Gestein wurde mit den Wagen über einen improvisierten Schienenweg zur Trasse transportiert. Die Felsbrocken dienten als Füllmaterial. Der Fuhrdienst an der Autobahn-Baustelle brachte der Familie Hahn ein willkommenes Zubrot.

Verletzte und Tote auf der Baustelle

Die Arbeit war nicht nur körperlich schwer, sondern auch gefährlich. Es gab Verletzte und auch Tote. Wie an anderen Baustellen, ereignete sich auch im Grubenloch bei Seifriedsburg ein tragisches Unglück, weiß Jürgen Lippert. Ein Baugerüst stürzte ein.

"Und zwar war das am 29.04.1939: Da waren zwei Arbeiter auf dem Gerüst, der Kaspar Betz und der Johann Hahn und beide waren hier aus Seifriedsburg. Auf jeden Fall ist dieses Gerüst zusammengebrochen, beide Arbeiter sind vom Gerüst runtergefallen, in die Baugrube."

Jürgen Lippert, Bürgermeister Gemünden

Kaspar Betz erlitt schwerste innere Verletzungen und starb noch am selben Abend in einem Würzburger Krankenhaus. Johann Hahn hatte sich die Hüfte gebrochen und blieb zeitlebens von dem Unfall gezeichnet.

Keine Zwangsarbeiter oder Häftlinge auf der Autobahnbaustelle

Hört man diese Schilderungen, kommen natürlich Bilder in den Sinn von anderen Bauprojekten der Nationalsozialisten: Brutales und menschenverachtendes Vorgehen bei Planung und Bau meist kriegswichtiger Rüstungsprojekte, bei denen zahllose Menschen ihr Leben verloren. Doch beim Bau der Reichsautobahnen – einem Projekt aus der Vorkriegs-Zeit – ging das Regime noch einen anderen Weg:

"Es war auch definitiv so, dass hier nur reguläre Arbeitskräfte gearbeitet haben, also alles Arbeitskräfte, die bei Firmen angestellt waren und hier ganz regulär beauftragt waren und gearbeitet haben. Es gab also keinerlei, ich nenne es jetzt mal 'zwangsverpflichtete Arbeiter'. Es gab keine KZ-Insassen, die hier hätten arbeiten müssen, sondern ganz regulär bis ins Jahr 1939, bis im Oktober, durch reguläre Baufirmen."

Jürgen Lippert, Bürgermeister Gemünden

Baustopp mit Kriegsbeginn

Im September 1939 verkündet Hitler den Beginn des von ihm provozierten Krieges. Der Ausbruch der militärischen Auseinandersetzungen hat auch unmittelbare Auswirkungen auf den Bau der Reichsautobahnen. Menschen und Maschinen werden nun an anderer Stelle gebraucht. Auch die Strecke 46 ist davon betroffen. Hier wird nie mehr ein Bauarbeiter auch nur einen Stein auf den anderen setzen. Zwar wird das Baumaterial größtenteils vor Ort belassen, die Baustellen werden gesichert und für den geplanten Weiterbau erhalten, doch dazu kommt es durch den Zusammenbruch des Regimes und die Kriegsniederlage nicht mehr. 

Die "Strecke 46" heute: eine 80 Kilometer lange Bauruine

So wird aus der Strecke 46 statt einer Autobahn letztlich eine alles in allem rund 80 Kilometer lange Bauruine, deren Versatzstücke weit verstreut in der Landschaft stehen, bis heute. Dieter Stockmann und seine Mitstreiter plädieren für einen differenzierten Umgang mit diesem historischen Erbe. Die Strecke 46 ist keine "nationalsozialistische Autobahn", sondern eine Autobahn, an der während der Zeit des Nationalsozialismus gearbeitet wurde, meint er und sieht das keineswegs als Haarspalterei.

Ein beeindruckendes Relikt deutscher Verkehrsgeschichte

Stockmann will die geschichtliche Verbindung der alten Trasse zu Deutschlands dunkelster Zeit nicht verschweigen. Aber er möchte auch verhindern, dass dieses schwere Erbe alles überdeckt und den Blick auf das seiner Meinung nach Wesentliche verstellt: Die Strecke 46 als beeindruckendes Relikt eines Teils bedeutender deutscher Verkehrsgeschichte.


33