Bayern 2 - Zum Sonntag


2

Zum Sonntag Das Gebet als Antwort: Lehrt auch heute Not beten?

Besonders in der Not kann das Gebet eine Antwort sein. Nicht im Gefühl der Hilflosigkeit und des Zorns über den Krieg Russlands gegen die Urkaine verharren, sondern im Vertrauen zu Gott beten.

Author: Kardinal Reinhard Marx

Published at: 3-11-2022

Kardinal Reinhard Marx | Bild: BR

"Not lehrt beten!" Das klingt gar nicht mehr zeitgemäß. Über Jahrzehnte, die in unserem Land für viele von Wohlstand geprägt waren, von politischer Stabilität und von Frieden, wurde auch die wirkliche Not zu etwas, das eher "die Anderen" betraf. Das Wort Not bezeichnet etwas das drängt, beengt und hemmt. Es ist das Gegenteil von Weite, von Freiheit, von Selbstbestimmtheit, von Chancen. Auch wenn es im Leben der einzelnen immer Not gab, haben wir als Gesellschaft seit Jahrzehnten keine große Not mehr erlebt. Besonders durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine suchen viele Menschen nach Antworten, um nicht zu verzweifeln und nicht im schalen Geschmack der Krise, im Gefühl von Hilflosigkeit und Zorn zu verharren.

Mit dem Sprichwort "Not lehrt beten" ist auch viel Unfug angerichtet worden

Kann das Gebet eine Antwort sein? Lehrt auch heute Not beten? Ja, durchaus. Im Lauf der Zeit ist mit diesem Sprichwort auch Unfug angerichtet worden, wenn es zu einer überheblichen Drohung verkam nach dem Motto "hättest du an Gott geglaubt, würdest du keine Not leiden". Kann Beten den Lauf der Welt verändern? Kann ein Gebet Gott bewegen, einzugreifen und alles zu verändern? Da stellen sich einige Fragen, und doch bin ich überzeugt: Beten hilft immer. Ich kann mir gar nicht vorstellen, nicht zu beten. Das sind nicht nur formulierte Gebete, das ist manchmal nur ein Stoßgebet, ein Seufzer, ein innerer Schrei. Ich vertraue darauf, dass Gott mein Beten hört und ich glaube: Er ist da, ich bin nicht allein!

Zum Autor

Kardinal Reinhard Marx ist seit Februar 2008 Erzbischof von München und Freising.

Psalme können weiterhelfen, wenn einem die Worte fehlen

Vor allem die Psalmen, die Generationen vor mir schon gebetet haben, können meinem Gebet aufhelfen, wenn ich keine Worte finde. Diese uralten Gebete, die Dank und Bitte ebenso kennen wie Verzweiflung und Klage, sind wie ein zeitloses Konzentrat menschlicher Erfahrungen. Nichts, was Menschen je widerfährt, kann Gott fremd sein. Gott hält uns aus, mit allem, was zum Leben gehört.

Diesen Glauben prägen auch die "Ungeschminkten Psalmen" von Stephan Wahl der aktuelle und zeitlose Erfahrungen aufgreift, an die Sprachkraft der Psalmen anschließt und den Nerv der Zeit trifft, der bei vielen blank liegt.

Aus dieser Sammlung bete ich einen Psalm zum Krieg:

"Höre unser Beten, unser Schreien, es töne in deinen Ohren,
unsere Angst um die Welt unserer Kinder und Kindeskinder.
Sie hast du uns in die Hände gegeben, deine Welt ist die unsrige.
In die Hände fallen soll sie nicht den Machthungrigen ohne Gewissen.
Nie werde ich verstehen, warum du dem allem nur zusiehst,
deine Hand nicht eingreift und die Tyrannen zerschmettert.
Mach dich gefasst auf meine zornigen Fragen, wenn wir uns sehen werden, später,
in diesem rätselhaften Danach, deinem geheimnisumwobenen Himmel.
Dann will ich Antworten, will Erlösung und endgültigen Frieden,
jetzt aber will ich nicht aufgeben, zu tun, was ich tun kann,
damit wir jetzt und auch künftig den Namen verdienen,
den wir so selbstverständlich als unseren eigenen tragen,
und ehrlich und glaubwürdig, und unverhärtet berührbar,
als menschlicher Mensch unter menschlichen Menschen leben." (*)

(*) Stephan Wahl: Es ist Krieg. Ein ratloser Psalm. In: Ders.: Erwarte von mir keine frommen Sprüche. Ungeschminkte Psalmen. Würzburg (Echter Verlag) 2022, 29.


2