Erdbeben in der Türkei "Es gibt Vermutungen, dass die kurdischen Gebiete bei der Hilfe vernachlässigt werden"
Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien trifft unter anderem kurdische Gebiete und Menschen, die seit Jahrzehnten diskriminiert sind. Wie wirkt sich das aus? Und wie viel Politik steckt hinter dieser Katastrophe?

Die Türkei und Syrien erleben das schwerste Erdbeben seit 1999. Betroffen sind auch kurdische Gebiete. Die Auswirkungen des Erdbebens im türkisch-syrischen Grenzgebiet sind noch nicht absehbar. Doch bereits jetzt ereignet sich eine humanitäre Katastrophe.
In den sozialen Netzwerken gibt es Vorwürfe, die türkische Regierung sei für das Entstehen der Schäden verantwortlich. Und dass bislang keine staatliche Hilfe durchkommt, während zivilen Hilfsorganisationen die Arbeit schwer gemacht wird. Wir haben mit Anita Starosta von der Hilfsorganisation Medico gesprochen.
ZÜNDFUNK: Blicken wir in die Türkei. Wie viel Hilfe kriegen die Menschen und die Hilfsorganisationen derzeit von staatlicher Seite?
Anita Starosta: Die Medico PartnerInnen, die wir in den Südosttürkei unterstützen, sind zivilgesellschaftliche Organisationen, die in den letzten Jahren immer wieder kriminalisiert wurden. Die finden sich jetzt gerade zusammen und versuchen, selbstorganisierte Hilfsgüter zusammen zu tragen und in die betroffenen Gebiete zu bringen. Allen voran die kurdischen Gebiete, in denen in den letzten zwei Tagen keinerlei staatliche Hilfen angekommen sind. Der staatliche Katastrophenschutz hat diese Gebiete bis heute noch nicht erreicht.
In den vom Erdbeben betroffenen Gebieten leben auch viele KurdInnen. Die haben in der Türkei seit Jahrzehnten einen schweren Stand. Warum fehlt da die staatliche Hilfe?
Es gibt nicht ganz unberechtigte Vermutungen, dass die kurdischen Gebiete, in denen WählerInnen leben, die nicht AKP nah sind, bei der Hilfe vernachlässigt werden. Allerdings sind auch viele Zufahrtswege vom Erdbeben zerstört, daher muss ich mit Spekulationen vorsichtig sein. Aber es gibt Berichte, dass Hilfslieferungen von Oppositionsparteien wie der HDP aufgehalten worden sind. Und dass zivilgesellschaftliche Initiativen, die nicht an den staatlichen Katastrophenschutz angedockt sind, an den Grenzen aufgehalten und ihre Hilfsgüter konfisziert werden. Daher gibt es die Vermutung, dass jetzt, zwei Monate vor den Wahlen, die Verteilung der Hilfe eine politische Rolle spielt.
In den sozialen Netzwerken gibt es Vorwürfe, die türkische Regierung sei für das Entstehen der Schäden verantwortlich? Was ist da dran?
In den Regionen wurden viele Häuser nach 2016 erbaut, nach dem Bürgerkrieg. Die türkische Wohnungsbaugesellschaft hat in Leichtbauhäuser investiert. Ganze Stadtteile wurden billig hochgezogen, ohne dass sie den Sicherheitsstandards entsprachen. Und die sind jetzt alle zusammengebrochen.
Ist das eine neoliberale Sparpolitik? Oder eine gezielte Vernachlässigung der kurdischen Bevölkerung, dass da kein Geld reingesteckt wurde?
Beides. Zum Beispiel wurde in Diyarbakir, eines der kurdischen Zentren, gezielt Politik gegen KurdInnen gemacht hat. Nach dem Bürgerkrieg wurden zum Beispiel andere Bevölkerungsgruppen angesiedelt, um die KurdInnen ethnisch zu zersiedeln.
Blicken wir jetzt mal nach Syrien. Sie waren vor wenigen Tagen noch in Nordostsyrien in Rojava, einer autonomen kurdischen Region. Rojava wurde zuletzt erst im November aus der Luft von der Türkei angegriffen. Wie gut können Sie da jetzt aktuell helfen. Was finden Sie da vor?
Die Region ist glücklicherweise nicht ganz so schlimm vom Erdbeben betroffen wie der Westen Syriens. Aber in Kobane sind Häuser eingestürzt und in den kurdischen Stadtteilen Aleppos. Es wurden Zeltstädte für Flüchtlinge aufgebaut für tausende Menschen, die aus Angst vor Nachbeben nicht in ihre Häuser zurückwollen. Die Hilfsorganisation Der Kurdische Halbmond ist gut organisiert, aber auch dort ist bislang noch keine internationale Unterstützung angekommen. Die Region ist generell nicht wirklich zugänglich für UN-Hilfsmechanismen, weil die UN ihre Hilfe generell über Damaskus organisiert.
Was brauchen die Menschen dort gerade am dringendsten? Praktisch und politisch?
Also praktisch sind zehntausende Menschen obdachlos geworden. Es ist gerade Winter. Es fehlt an medizinischer Versorgung, nachdem im syrischen Bürgerkrieg die Gesundheitsinfrastruktur zerstört wurde. Und politisch ist nun die Frage, wie die humanitäre Hilfe nicht instrumentalisiert wird von den Despoten, die dort regieren. Dass Zugänge gesichert werden in die Gebiete, in denen die Menschen auf Hilfe warten.