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"Wie im echten Leben" In diesem französischen Film spielt Juliette Binoche einen weiblichen Günter Wallraff

Juliette Binoche spielt nach einer wahren Begebenheit in „Wie im echten Leben“ einen weiblichen Günter Wallraff. Ihre Figur recherchiert die Arbeitsverhältnisse am unteren Rand der französischen Gesellschaft.

Author: Roderich Fabian

Published at: 27-6-2022 2:26 PM

Juliette Binoche | Bild: Wiel_Pressefoto

Im Zentrum des Films steht Marianne - gespielt von der verlässlichen Juliette Binoche. Marianne stellt sich am Arbeitsamt vor. Nach langen Jahren als Hausfrau und einer Scheidung müsse sie nun wieder arbeiten, sagt sie. Und ihre finanzielle Misere sorge dafür, dass sie so gut wie jeden Job annehmen würde. In einer Pause zwischen zwei Terminen lernt sie im Wartebereich des Amtes einen netten, humorvollen Mann Mitte 50 kennen. Marianne begleitet ihn zum Rauchen vor die Tür und verwickelt ihn in ein Gespräch um Ehrlichkeit.

Tatsächlich stellt sich schon in ersten Viertel des Films heraus: Marianne ist nicht ehrlich, weder gegenüber dem arbeitslosen Mann noch gegenüber den Beamt*Innen. Denn eigentlich sucht sie keine Arbeit, sondern sie ist Schriftstellerin, die etwas über die Arbeitsbedingungen in Niedriglohn-Sektor schreiben möchte.

Marianne taucht undercover in die Welt der Putzkräfte ein

Sie absolviert eine Fortbildung für Reinigungspersonal und heuert anschließend bei einer Zeitarbeitsfirma an. Marianne wird - vorübergehend, aber mit vollem Arbeitseinsatz - Putzfrau. Eines ihrer Einsatzgebiete - und auch das von elf Kolleg*Innen - ist eine Fähre, die täglich zwischen Frankreich und England pendelt und auf der man übernachten kann, ein stressiger Job, stellt Marianne fest: „Es macht mir keine Angst, Betten zu machen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie es ist, 60 Betten in anderthalb Stunden zu schaffen. 1:30 Minute pro Bett. Oberes Bett, unteres Bett, das geht auf den Rücken. Und auf die Schultern. Wenn man nachhause kommt, zittern einem die Arme."

Aus einer piviligierten Position heraus muss sie lügen

Marianne geht es tatsächlich darum, einer größeren Öffentlichkeit die Augen zu öffnen über den Druck, unter dem das Reinigungspersonal steht, das meistens dann arbeitet, wenn die anderen noch schlafen. Das mehrheitlich bildungsbürgerliche Publikum, das diesen Film in den Programmkinos Europas zu sehen bekommt, kann tatsächlich einiges mitnehmen über den Alltag des sogenanten „Facility Managements“ der Gegenwart.

Aber dem Film „Wie im echten Leben“ geht es vor allem um die Fake-Existenz der Schriftstellerin, denn sie flunkert ja aus einer privilegierten Positionen heraus ja auch ihren Kolleg*Innen etwas vor. Sie ist gezwungen, die Menschen anzulügen, denen sie helfen will. Mit der jungen Christèle freundet sie sich regelrecht an, aber als Marianne spontan mit ihr an den Strand fährt, werden die Unterschiede zwischen den beiden Frauen deutlich.

Der Film ist eine Studie der modernen Klassengesellschaft

Die poetische Romantik, die die Schriftstellerin der Arbeiterin vermitteln will, lässt Christèle völlig kalt. Emmanuel Carrères dritter Spielfilm „Wie im echten Leben“ ist vor allem auch eine spannende Studie der modernen Klassengesellschaft, in der sich schon die Vorstellungen von sinnvoll verbrachter Zeit kolossal voneinander unterscheiden. Mit den vielen albernen „Feelgood Movies“, die in letzter Zeit aus Frankeich gekommen sind, hat dieser Film überhaupt nichts zu tun. Hier wird kaum etwas beschönigt und auch kein Happy End angestrebt. Im Gegenteil: Am Ende muss man sich unweigerlich die Frage stellen, wem diese Art von „verdeckter Recherche“ wirklich nützt: Den ausgebeuteten Arbeitern oder doch eher der investigativen Autorin, die damit ihren Ruhm vermehrt?