Bayern 2 - Zündfunk

30 Jahre Solingen "Die Angst geht weg, aber sie wird zu einem Teil des Lebens"

Beim rassistischem Anschlag in Solingen verbrennen vor 30 Jahren fünf Menschen. Mirza Odabaşı ist damals fünf Jahre alt, jetzt zeigt er in einer Doku die ständige Angst und wie die Geschehnisse das Leben der türkischen Community immer noch prägen.

Von: Ann-Kathrin Mittelstraß

Stand: 30.05.2023

Auf dem Bild sieht man zwei Menschen, die aus einem Hausfenster ein rotes Banner halten. Darauf steht: Gestern Müllen, heute Solingen, morgen...?
| Bild: picture alliance / Caro | Trappe

Vor 30 Jahren, am 29. Mai 1993, verbrennen in Solingen fünf Menschen. Es ist ein rassistischer Mordanschlag. Solingen, das ist für viele Menschen in Deutschland ein Synonym geworden für eine Reihe von Attentate der 1990er an migrantischen Communities. Solingen reiht sich ein in eine lange Liste von rechten Verbrechen, die bis in die Gegenwart reichen: die NSU-Morde, Hanau und Halle. In einer neue ARD-Doku erzählt Regisseur Mirza Odabaşı die Geschichte des Anschlags von Solingen. Odabaşı war damals fünf Jahre alt und lebte im benachbarten Remscheid. Was der Anschlag mit ihm und der deutsch-türkischen Community gemacht hat, erklärt Odabaşı im Interview mit dem Zündfunk.

Zündfunk: Erinnerst du dich noch, wie du vom Anschlag in Solingen erfahren hast, du warst damals fünf Jahre alt? Wie das in deiner Familie war, davon zu erfahren? 

Mirza Odabaşı: Ich habe nicht mit meinen Eltern darüber geredet. Ich habe es nicht zu Hause erfahren. Ich habe es nicht im Fernsehen gesehen, sondern ich wurde von meinen Eltern zu einer Art Moschee-Kulturverein geschickt. Dort waren Erwachsene um mich herum, die T-Shirts mit Druck des verbrannten Hauses in Solingen getragen haben. Diese erwachsenen Menschen sind zu den Protesten nach Solingen gefahren und ich hörte aus den Gesprächen heraus, dass diese Menschen gestorben sind, weil sie Ausländer oder Türken waren. Das hat natürlich bei mir ein einschneidendes Erlebnis hervorgerufen.

Hast du das mit fünf Jahren schon fassen können, was es bedeutet, dass Menschen umgebracht werden, weil sie Türken sind?

Es hat für mich eine Gefahr ausgestrahlt, weil ich wusste, dass ich und meine Eltern aus der Türkei stammen. Ich wusste, dass ich in zwei Kulturen mit unterschiedlicher Auffassung aufwachse. Mir war also bewusst, dass ich in dieses Schema reinpasse. Als Reaktion auf die Angst habe ich in meinem Fenster zu Hause alles entfernt, was darauf hinweisen kann, dass hier eine türkische Familie wohnt. Ich kann mich nicht an viel erinnern, was in diesem Zeitraum passiert ist. Aber an diese Angst erinnere ich mich sehr genau.

Angst wird sehr stark beschrieben in deinem Film. Da wird ein Mann gezeigt, der in seiner Wohnung ein Seil am Heizkörper befestigt hat, um jederzeit aus dem Fenster aus seinem Haus zu fliehen. Außerdem wird von Nachbarschaftshilfe erzählt - gab es das in deiner Familie auch?

In der Tat. In den Neunzigerjahren war es eine bekannte Bewegung innerhalb von türkischen Familien in Deutschland. Das fing damit an, dass, wenn man in die Türkei gereist ist, sich über Funkgeräte im Auto verständigt hat, weil immer mehrere Familien hintereinander gefahren sind. Und diese Funkgeräte landeten irgendwann in den Wohnungen. Ich erinnere mich, wie mein Vater da auch immer noch mit Freunden weiter kommunizierte. Ich habe später erst erfahren, dass mein Vater und andere türkische Väter oder Familien, diese Funkgeräte dafür genutzt haben, nachts miteinander zu kommunizieren. Sie haben in der Nachbarschaft Ausschau gehalten, ob irgendwelche fremden Leute durchlaufen oder fremde Autos vorbeifahren. In der Tat war diese Angst auch bei mir zu Hause spürbar.

Ist dieses Gefühl der Bedrohung, diese Angst je wieder weggegangen? Kann das überhaupt weggehen, irgendwann?

Die Angst geht weg, aber sie wird zu einem Teil des Lebens. Es macht dir eine Realität bewusst: so etwas kann jederzeit passieren. Und das zeigt unsere Vergangenheit, Gegenwart und leider wahrscheinlich auch unsere Zukunft, dass solche Sachen passieren werden in diesem Land. Die Aufdeckung der NSU-Morde war für mich ein Triggerpunkt. Es hat mich sofort wieder in die 1990er Jahre zurückgeholt und hat ein Fass in mir aufgemacht. Ich glaube, das passiert bei Menschen sehr viel, die die 1990er Jahre erlebt haben, aber auch die Jugendlichen, die jetzt aufwachsen und Hanau mitbekommen haben. Und in zehn Jahren wird für sie eine bestimmte Schublade aufgemacht, wo ganz viele Traumata drin sind.

Wo du jetzt gerade Hanau erwähnst, da wurden sehr junge Leute wahnsinnig traumatisiert. Du sagst, man merkt das im Rap und der Popkultur. Wie gehen diese jüngeren Menschen von heute damit um?

Ich glaube sehr ähnlich. Die Menschen, die Jugendlichen, haben ein ähnliches Gefühl. Man sieht eine Ohnmacht. Aber diese Jugendlichen, die haben auf jeden Fall viel, viel mehr Möglichkeiten. Genauso, wie ich mehr Möglichkeiten als meine Eltern hatte, mich auszudrücken und meine Position zu zeigen. Alleine, wenn man auf Social Media schaut, wie Menschen sich dazu äußern können. Künstlerinnen mit Einwanderungsgeschichte können ihre Geschichte oder politische Themen verarbeiten. Es gibt eine große Bühne, wo Menschen sich verwirklichen und aussprechen können. Und das ist der große Unterschied zu den 1990ern.

Jetzt jährt sich Solingen am 29. Mai zum 30 Mal. Du sagst in Deinem Film: "Wir können als Gesellschaft nicht auf die Jahrestage von Anschlägen warten, um über Rassismus zu sprechen. Betroffene werden nicht einmal im Jahr, sondern alltäglich damit konfrontiert." Was wünschst du dir? Was erwartest du dir und von wem?

Ich habe das Gefühl, dass wir ein System mitaufgebaut haben in diesem Land, wo Menschen, die keine Rassismuserfahrungen haben, darüber entscheiden, was Rassismus ist oder was es nicht ist. Ich glaube, es ist ganz wichtig, migrantischen Menschen zuzuhören oder sich zum Beispiel diesen Film anzugucken und sich die Probleme und die Emotionen der migrantischen Community anzuhören. Vielleicht erklärt sich dann, dass viele migrantische junge Männer oder Menschen nicht kulturell bedingt wütend oder sauer oder laut sind, sondern dass es auch dafür Gründe gibt. Dass Probleme sich auch anders in unserer Gesellschaft äußern.

Diese Doku ist ja nicht nur aus einer sehr persönlichen Perspektive gedreht. Du sagst: "Danke, dass Du zuhörst" am Anfang. Am Ende sagst du: "Ich danke dir, dass du bis zum Schluss geblieben ist". Da habe ich mich gefragt: Reicht es denn schon, dass ich das jetzt geschaut habe?

Für manche Menschen wird es ausreichen. Es wird ein Anfang gewesen sein. Rein gesellschaftlich wird es nicht ausreichen. Aber es ist schön, dass man hier im Radio darüber sprechen kann. Es ist schön, dass man im Öffentlich-Rechtlichen Platz findet. Es ist schön. dass man es in der Mehrheitsgesellschaft normalisieren kann, über die Probleme von Menschen einer bestimmten Gruppe zu sprechen. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir alle verstehen. Wir müssen Alle und alle Probleme in diesem Land verstehen und ein Gefühl dafür bekommen - falls wir eine Gesellschaft werden wollen.