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Sergej Sokolow, "Nowaja Gaseta" Wenn Morde zum Alltag gehören

Journalisten leben gefährlich in Russland: Seit dem Jahr 2000 sind mehr als 200 Kritiker ermordet worden. Wir haben mit Sergej Sokolow von der „Nowaja Gaseta“ gesprochen: über die ständige Angst und über den langen Arm des Kremls.

Von: Katharina Mutz

Stand: 01.03.2016

Das Titelblatt der Nowaja Gaseta zeigt die ermordete Journalistin Anna Politkovskaya | Bild: picture-alliance/dpa

Dass Journalisten wegen kritischer Berichterstattung bedroht werden, gehört in vielen Ländern zum traurigen Alltag. Auch in Russland. Dass aber der Chef des Staatlichen Russischen Ermittlungskomitees höchstpersönlich einen unliebsamen Journalisten in ein Wäldchen verschleppt, droht, ihn umzubringen und dann noch scherzt, die Ermittlungen anschließend selbst zu übernehmen – das ist auch in Russland eher ungewöhnlich. Im Sommer 2012 ist genau das passiert. Bedroht wurde Sergej Sokolow, der stellvertretende Chefredakteur der Nowaja Gaseta, einer der letzten unabhängigen Zeitungen im Land, für die auch die 2006 ermordete Journalistin Anna Politkowskaja arbeitete. Sokolow ließ sich von den Einschüchterungen damals nicht verängstigen. Im Gegenteil. Kürzlich hat er eine umfangreiche Recherche zum Mord am Oppositionellen Boris Nemzow veröffentlicht, der vor einem Jahr in Sichtweite des Kremls erschossen worden ist. Katharina Mutz hat Sergej Sokolow in München getroffen.

Wer steckt Ihrer Meinung nach an dem Mord an Boris Nemzow?

Sergej Sokolow: Ich denke dasselbe wie die Anwälte der Familie Nemzow: Es sind tatsächlich die Auftragskiller von Boris Nemzow verhaftet worden. Das ist wichtig, denn in Russland ist es längst nicht immer so, dass die wirklichen Mörder verhaftet werden. Aber es fehlen immer noch die Hauptverantwortlichen für diesen Mord: der Auftraggeber und der Organisator. Wer der Organisator ist, ist ziemlich klar: Aller Wahrscheinlichkeit nach ist das ein Offizier der innertschetschenischen Streitkräfte aus dem Bataillon Nord, der immer noch nicht vernommen wurde. Wer der Auftraggeber ist, ist schwieriger zu sagen. In jedem Fall führt die Spur dieses Verbrechens nach Tschetschenien, zu Leuten, die in der Führung dieser Republik nicht gerade die hinteren Plätze besetzen.

Sergej Sokolow bei einer Nemzow-Gedenkabend im Russischen Kulturzentrum

Nach unseren Informationen gab es eine Liste von Leuten, die eliminiert werden sollten. Auf dieser Liste standen neben Boris Nemzow: der Oligarch Michail Chodorkowski, die Moderatorin Ksenia Sobtschak und der Chef des oppositionellen Radiosenders „Echo Moskau“ Aleksej Venediktov. Es ist unwahrscheinlich, dass irgendwelche tschetschenischen Mörder diese Liste geschrieben haben. Also, wer könnte den Tschetschenen eine solche Liste möglicher Opfer diktiert haben? In den letzten zwei Jahren haben gemeinnützige, „patriotische“ Organisationen und Fernsehjournalisten permanent über sogenannte Volksfeinde gesprochen. Dabei haben sie genau dieselben Leute aufgezählt: Boris Nemzow, Chodorkowski, Sobtschak, Venediktov und andere. Im Zentrum Moskaus wurden Plakate aufgehängt, auf denen diese Oppositionellen verunglimpft wurden. Da frage ich mich: Haben vielleicht genau die Leute, die über diese sogenannten Volksverräter herziehen, den Tschetschenen gesagt, wen sie umbringen müssen?

In den letzten Jahren wurden fünf Mitarbeiter Ihrer Zeitung ermordet. Wie sieht die Arbeit der Nowaja Gaseta nach all dem aus?

Sergej Sokolow: Die Situation ist vor allen Dingen für die Korrespondenten, die außerhalb Moskaus arbeiten, schwierig. Sie werden ständig bedroht. Für uns ist das Routine. Wir versuchen, unsere Mitarbeiter vor möglichen Gefahren durch Politiker, Polizeibehörden oder kriminelle Strukturen zu schützen. Leider gehört das zu unserer täglichen Arbeit als Journalisten. Seit dem Jahr 2000 sind im gesamten Land mehr als 200 Journalisten umgebracht worden – und nicht ein einziger Auftraggeber dieser Morde ist festgenommen worden. In den meisten Fällen sind nicht einmal die Ausführenden gefasst worden. Wenn man einen Journalisten verprügelt oder ermordet, dann wird niemand jemals nach den Verantwortlichen suchen. Das provoziert natürlich eines: Das Gefühl, dass man für so etwas nicht bestraft wird. Und dieses Gefühl wird leider von der Statistik bestätigt.

Sie haben wahrscheinlich auch vom Fall des russlanddeutschen Mädchens Lisa in Berlin gehört. Seitdem vermuten viele Politiker in Deutschland, dass der Kreml in den Medien und den sozialen Netzwerken eine gezielte Desinformationskampagne führt. Für wie wahrscheinlich halten Sie solche Vermutungen?

Grafik Trolle | Bild: BR zum Artikel Russland Wie "Computer-Trolle" agitieren

Russland – der Fall "Lisa": Da kommt in Berlin ein 13-jähriges Mädchen nicht mehr nach Hause. Ihre Eltern, Russlanddeutsche, geben eine Vermisstenanzeige auf. Nach 30 Stunden ist sie wieder da, sie sei von südländisch Aussehenden entführt und vergewaltigt worden, sagt sie. [mehr]

Sergej Sokolow: Die deutschen Politiker haben das ganz schön spät gemerkt. Eine solche Politik gibt es schon seit zwei, zweieinhalb Jahren. Dabei verwendet der Kreml eine Strategie, die sich schon in der Sowjetunion bewährt hat: Es werden riesige, gut bezahlte Medienfirmen gegründet, die Propaganda betreiben – und nicht Journalismus. Russia Today, Vesti 24, Mia Nowosti – die Liste könnte man noch deutlich verlängern. In diese russischsprachigen Medien wird gigantisch viel Geld hineingepumpt. Sie richten sich nicht so sehr an die deutschen Zuhörer als vielmehr an die vielen Russen, die in Deutschland leben. Das ist zielgerichtete Propaganda, die nach allen Regeln des Kalten Krieges funktioniert und angereichert ist mit neuen Erkenntnissen der Psycholinguistik und Psychologie. Außerdem gibt es spezielle Fonds und Institute, die einheimische Experten aus Deutschland, Frankreich oder den USA bezahlen, damit sie in den dortigen Medien kremlfreundliche Positionen vertreten.

Es ist schon lange bekannt, dass Putin den Front National in Frankreich finanziert hat. Einige Politiker in Deutschland vermuten, dass der Kreml auch stramm rechte Parteien wie die AfD unterstützt.

Sergej Sokolow bei einer Nemzow-Gedenkabend im Russischen Kulturzentrum

Sergej Sokolow: Im letzten Jahr fand in Sankt Petersburg ein Kongress statt, zu dem alle rechtsradikalen Gruppierungen Europas eingeladen waren. Dorthin kamen unter anderem Vertreter des Front National, deutsche, italienische und ungarische Rechtsradikale. Da ergibt sich ein Widerspruch: Auf der einen Seite warnt der Kreml vor vermeintlichen Rechtsextremisten in der Ukraine, die angeblich die Macht in Kiew an sich gerissen haben. Auf der anderen Seite versammelt er in Sankt Petersburg alle Rechtsradikalen Europas.

Tatsächlich ist bekannt, dass Marine Le Pen einen Kredit vom Kreml bekommen hat und aller Voraussicht nach jetzt vor den Wahlen einen weiteren Kredit bekommen wird. Wenn man davon ausgeht, bin ich mehr als sicher, dass deutsche, ungarische und alle anderen europäischen Rechtsradikalen vom Kreml finanziell unterstützt werden. Das Ganze ist ein geopolitisches Spiel, das auf den Zerfall der Europäischen Union abzielt. Das ist der Grund, weshalb in Russland so lautstark über die Flüchtlingskrise berichtet wird – als ob das Russland etwas angehen würde. In letzter Zeit ist das die wichtigste Aussage von kremlfreundlichen Politologen: „Seht mal, Europa hat so viele Flüchtlinge aufgenommen – das ist das Ende.“ Ich glaube, dass all das finanziert wird – und zwar ganz zielgerichtet.


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