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LGBTQ in der Ukraine Diese Münchnerin ist nach Kiew gereist, um ihre queeren Freund*innen zu unterstützen

Sibylle von Tiedemann fährt freiwillig in das Land, aus dem Andere vor dem Krieg fliehen. Sie engagiert sich ehrenamtlich für die LGBTQ-Brücke "Munich Kyiv Queer". Wie geht es den Communities in der Ukraine, mit denen sie zuletzt noch auf der Kiew Pride war?

Author: Tobias Ruhland

Published at: 3-4-2023 7:51 PM

Sibylle von Tiedemann ist von München nach Kiew gereist, um ihre queeren Freund*innen zu unterstützen. Dieses Bild zeigt sie vor der Kirche Andreassteig in Kiew | Bild: Sibylle von Tiedemann

München und Kiew sind nicht nur Partnerstädte, sie haben auch seit über zehn Jahren eine ganz besondere queere Verbindung. Damals, im Sommer 2012, kam erstmals eine kleine LGBTQ-Abordnung aus Kiew zum Christopher Street Day in die bayerische Landeshauptstadt. Ein Jahr später dann erfolgte die Gegeneinladung. Für alle Beteiligten sollte es ein prägendes Erlebnis werden: Bayerische und ukrainische LGBTQs Hand in Hand und unter massivem Polizeischutz beim Kiew Pride. Es war ein Protestmarsch für Menschenrechte, der erste dieser Art in der Ukraine.

Mit dabei in Kiew war damals auch die Queer-Aktivistin Sibylle von Tiedemann. Sie wurde in der Folge auch Gründungsmitglied von Munich Kyiv Queer, einer Schnittstelle zwischen den LGBTQ -Communities in München, Kiew und anderen ukrainischen Städten.

Mit Beginn des russischen Angriffskrieges will Sibylle in die Ukraine

Mit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine steigert Sibylle ihr Engagement bei Munich Kyiv Queer. Nimmt sogar Geflüchtete bei sich auf, und allmählich wächst da in ihr ein Gefühl: Sie will, sie muss in die Ukraine. „Das Motiv war Sehnsucht“, sagt sie. „Ich will dorthin fahren, ich will die Leute sehen, die ich viele Monate nicht mehr gesehen hatte und um die ich mir Sorgen gemacht habe.“ Weil sich das Land und die Leute gerade so tiefgreifend änderten. Ihre Sorge war auch: Was ist, wenn wir uns fremd werden? Und uns irgendwann nichts mehr zu sagen haben?

Also fährt sie hin. Anfang Dezember steigt Sibylle alleine in den Zug Richtung Kiew. Mit im Gepäck: Wärmflaschen, Powerbanks, Akkutaschenlampen und vier Kilo Kekse für ihre queeren Freunde in der Ukraine. Sie beginnt, ihre Reise akribisch in einem Videoblog zu dokumentieren. Nutzt die Reise auch, um Spenden zu sammeln.

„Es hat keinen Sinn, die Angst vor dem Krieg zu unterdrücken“

Sibylle von Tiedemann fuhr also freiwillig in ein Land, aus dem andere Menschen wegen des Krieges flüchten. Würden ihr die Menschen in der Ukraine, jene, die nicht ausreisen können oder wollen, den Vogel zeigen? Nein, sie alle waren freundlich. Und: „Es hat keinen Sinn, die Angst vor dem Krieg zu unterdrücken“, sagt Sibylle über ihren Entschluss, aus dem sicheren München nach Kiew zu reisen.

Sibyyle von Tiedemann in Charkiw.

Doch da war dieser eine Moment, in dem auch sie die Angst lähmte. Es ist noch Morgen, Kiews Straßen sind voller Glatteis, da hört Sibylle Geschosse. Sie fragt Edward, bei dem sie wohnt, ob sie nun Zuflucht in einer 800 Meter entfernten Metro-Station suchen sollen, die als Bunker genutzt wird. Doch Edward antwortet: „Nee, das Internet funktioniert gerade, das will ich ausnutzen und noch ein wenig arbeiten.“ Auch als das Internet dann doch noch ausfällt, will er die Wohnung nicht verlassen. Er duscht und frühstückt. Nimmt den Fliegeralarm gelassen. Und Sibylle – bleibt bei ihm. Später erfährt sie, dass an diesem Tag 40 Raketenangriffe auf Kiew erfolgten, 37 Raketen konnten abgewehrt werden.

All das erzählt Sibylle vor wenigen Tagen bei einem ihrer Vorträge über ihre Ukraine-Reise. Dabei zeigt sie auch Handyfilme, die hängen bleiben: Menschen irren wie Einbrecher mit Taschenlampen durch Supermärkte, weil wieder der Strom ausgefallen ist. Menschen feiern Weihnachten in einer U-Bahn-Station. Sibylle traut sich nicht, über die Straße zu gehen, weil es so dunkel ist, dass man fast nichts sieht; die Unfallrate in Kiew hat sich seit dem Krieg versiebenfacht. Solche Sachen. Auch in der besonders kriegsgebeutelten Stadt Charkiw war Sibylle, um einen queeren Freund zu besuchen.

Was bedeutet der Krieg für die LGBTQs in der Ukraine?

Da ist dieses eine Video, das Sibylle in einem Taxi in Kiew zeigt. Auf dem Weg zum Büro von Kiew Pride. Dem Taxifahrer sagt sie aber nicht, wohin genau sie will. Nur die Adresse. Sicher ist sicher. Denn auch im Krieg schlägt queeren Menschen von ihren eigenen Landsleuten Hass entgegen. Das ist die eine Seite; eine Antwort auf die Frage, was der Krieg gegen die Ukraine für LGBTQ bedeutet.

Regale im Supermarkt bei Stromausfall

Die andere: In ihren Büros betreibt Kiew Pride ein sogenanntes „Shelter“. Eine vorübergehende Unterkunft für Menschen in Not. Das englische Wort „Shelter“ sei nun in den ukrainischen Sprachgebrauch eingegangen, erzählt Sibylle. In dem Shelter finden besonders gefährdete Menschen, seien es Lesben, Schwule, Mütter mit Kindern oder Geflüchtete aus besetzten Gebieten, Schutz. Und sie können dort auch eine Ausbildung erhalten – sei es als Barista, Masseur oder Friseur. Damit sie auch im Krieg, und an einem vielleicht neuen Ort, ein Einkommen haben. Die Macherinnen der Kiew Pride öffnen im Krieg also ihre Räume auch für andere vulnerable Gruppen. Eine interessante Entwicklung und ein Symbol dafür, dass Ukrainer*innen im Krieg zusammenrücken und in erster Linie eins sind: Ukrainer*innen. Es gibt gerade Wichtigeres, als Vorurteile gegen Lesben, Schwule und trans Menschen zu pflegen.

Putin hasst Homosexuelle? Dann lieben wir sie!

In einem anderen wichtigen Bereich wird das Thema zugleich nicht unter den Teppich gekehrt: im Militär. Da gibt es auch ganz offizielle Gruppen und Vereinigungen queerer Soldaten im Heer der Ukraine. Und so komisch das auch klingen mag: Ausgerechnet Putin stärkt der LGBTQ-Szene in der Ukraine mit seinen homophoben Hassparolen aktuell den Rücken. Nach dem Motto, wir hassen Putin – und lieben das, was Putin hasst: queere Menschen. Bemerkenswert und mutig sind in diesem Zusammenhang auch die Szenen aus dem vergangenen Sommer vom Pride in Charkiw, das nahe an der russischen Grenze liegt und einer der Dauerkriegsschauplätze ist. Ausgerechnet in Charkiw sind queere Menschen vor einigen Monaten mit einem Meer an Regenbogenflaggen durch die U-Bahn-Stationen marschiert.

Warum Cat Content auch im Krieg funktioniert

Sibylle von Tiedemann ist übrigens heil wieder zurückgekehrt aus der Ukraine. Aus den geplanten zehn Tagen wurden insgesamt vier Wochen. Insgesamt hat sie 14.000 Euro an Spenden gesammelt. Und für sich selbst hat sie in Kiew einen Pulli gekauft mit einer Katze drauf. Dieses Motiv ist in der Ukraine gerade sehr populär. Denn als „Kätzchen“ werden auch junge Männer bezeichnet, woraus eine Chiffre geworden ist für die Soldaten der ukrainischen Armee. Und so steht über der Katze auf Sibylles Pulli auf Ukrainisch „Luftaufklärung“. Und darunter „Ruhm der Ukraine“. Cat Content funktioniert – auch im Krieg.

Mehr zu Munich Kyiv Queer und der Reise von Sibylle von Tiedemann findet ihr hier.