Bayern 2 - Zündfunk

Meinung Die Popkultur braucht mehr von dem, was heute als kulturelle Aneignung diskreditiert wird

Popkultur ist die ultimative Vermischung von Kulturen und Stilen. Das kann gründlich daneben gehen. Andere holen sich die Lorbeeren, Underdogs und Minderheiten werden übergangen. Doch es kann auch positiv und sogar förderlich sein - unter bestimmten Bedingungen. Ein Kommentar.

Von: Michael Bartle

Stand: 03.08.2022

Bob Marley | Bild: picture alliance / Sammy Minkoff | Sammy Minkoff

Im Song "Punky Reggae Party" singen Bob Marley und die Wailers "New Wave, New Craze". Voller Respekt fallen die Namen "The Jam", "The Damned" und "The Clash", drei Bands, die Ende der 70er Dub und Reggae in den Punk verwurstet haben. Durch diesen Brückenschlag ist sie erst entstanden, die "Punky Reggae Party". Oder auch Ray Charles. Im Song "Country Roads" fährt er auf John Denvers Spuren, zollt dem Country-Helden Respekt.

Popkultur ist die Hybridisierung verschiedener Kulturen und Stile

Popkultur, ja, Kultur überhaupt eröffnet im besten Fall einen Safe Space für neue Zielgruppen. Und zwar unabhängig davon, ob die Künstler*Innen und Fans einer weißen Mehrheitsgesellschaft angehören. Es ist sogar wichtiger, wenn nicht. Denn so kann Kunst oder Musik zu Sprachrohr und Repräsentation von Underdogs und Minderheiten werden. Sehr bedeutend ist dann die Frage, wer eigentlich von einem Austausch profitiert. Könnte da vielleicht eine feindliche Übernahme im Spiel sein?

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Punky Reggae Party (Jamaican 12" Version) | Bild: Bob Marley - Topic (via YouTube)

Punky Reggae Party (Jamaican 12" Version)

Manchmal gilt in der Popkultur: je ungewöhnlicher, desto besser. Popkultur hat immer schon mit der Bastardisierung und Hybridisierung verschiedener Kulturen und Stile gearbeitet. Und diese Stile haben sich dann im besten Fall gegenseitig befruchtet, widersprochen, aufeinander bezogen und gegenseitig weitergeführt. Idealerweise ist das ein Hierarchie-freies Gespräch und ein ewiger Austausch, meint auch Roderich Fabian, der Leiter des Bayern 2 Nachtmix:

"Ohne kulturelle Aneignung oder hybride Musik, die sich aus verschiedenen Kulturen zusammenfügt, gäbe es gar keine Popmusik."

Roderich Fabian, Leiter des Bayern 2 Nachtmix

Also: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr von dem, was heute als kulturelle Aneignung diskreditiert wird. Im besten Fall brauchen Musik und Kultur keinen Reisepass und die Hautfarbe sollte erst recht keine Rolle spielen! Duke Ellington liebte Debussy und Stravinsky. Jimi Hendrix hatte ein Faible für Bach und Bob Dylan. Toni Morrison spricht von Julio Cortazar und Garcia Marquez wie von Blutsverwandten. Beispiele gibt es ohne Ende.

1950 sang Muddy Waters, er fühlt sich wie ein Rolling Stone. Es war einer seiner frühen Signature Songs und sein erster auf Chess Records. Die Stones haben nicht nur übel bei Muddy Waters abgekupfert, sondern sie haben sich auch nach diesem Song benannt. Muddy Waters hat sich dann aber in einer Doku bei den Stones dafür bedankt. Ihr Referenzieren auf Muddy Waters hätte ihn der Vergessenheit entrissen und seine Musik sich danach besser verkauft als je zuvor.

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Muddy Waters - Rollin' Stone | Bild: Classic Mood Experience (via YouTube)

Muddy Waters - Rollin' Stone

Die Hamburgerin Derya Yıldırım kreuzt mit ihrer Grup Şimşek anatolische Folklore mit Psychedelic Musik. Sebastian Reier von den Münchner Kammerspielen legt im Import/Export mit Habibi Funk Musik aus Nordafrika und Zentral-Asien auf. Und Dick Dale, der sogenannte "King Of The Surf Guitar", verriet im Zündfunk über seinen unvergesslichen "Pulp Fiction"-Song "Misirlou":

"Misirlou bedeutet eigentlich 'Der Ägypter' und ist ein arabischer Love-Song. Mein Habibi fragt 'Wo bist du nur, Liebling?' Aber man muss ihn langsam spielen"

Dick Dale

Dales Vater kommt eigentlich aus dem Libanon, seine Mutter aus Polen bzw. Weißrussland. Nix da mit nur "Surfin' USA"!

Hip-Hop, die Einverleibungs-Maschine

Und dann ist da noch Hip-Hop. Die große Einverleibungs-Maschine rührt mit Samples ohnehin alles zusammen. Diese irgendwie postmoderne Musik gibt, je nach Player, einen Platz und einen Safe Space sowohl für die größten antiweißen Ideologien genau wie für prokapitalistische Ausdünstungen. Ist die Pimp- und Hustler-Kultur nicht, wie DJ und Produzentin Beth Coleman für das 21C-Magazine schreibt, ein eher moralfreier Versuch, die Master- und Slave-Beziehung zu karikieren?

Die Filme von Spike Lee, die Malerei von Jean-Michel Basquiat und die Musik von Living Colour und Tracy Chapman, waren alle im Mainstream erfolgreich, nicht weil sie so schön und smoooth schwarz waren, sondern weil sie die Zeichen schwarzer und weißer Kultur selbstbewusst hybridisiert haben. Der afroamerikanische Journalist Greg Tate nennt diese Technik "Post-Soul". Living Colour, schreibt Greg Tate in seinem schon 2003 erschienenem Buch "Everything But The Burden", hätten sich eher bei Led Zeppelin und den Sex Pistols bedient als bei James Brown und George Clinton. Aber dennoch wäre die Unzufriedenheit mit der weißen Mehrheitskultur als Ausgangspunkt für diese kulturellen Äußerungen deutlich hörbar.

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Living Colour - Cult Of Personality (Official Video) | Bild: LivingColourVEVO (via YouTube)

Living Colour - Cult Of Personality (Official Video)

Artists of Colour bedienen sich bei angeblich weißer Kulturtechnik – das soll und darf kein Problem sein. Aber wie schaut es aus, wenn Privilegien und Ausbeutungsverhältnisse anders gelagert sind. Im Hip-Hop gibt es dafür den Begriff "Wigga", der Weiße, der sich mit schwarzer Kultur kostümiert. Manche Analysten begreifen das als "Flattery", als Schmeichelei Schwarzer Kultur. Andere sehen darin eine upgedate Form von "Minstrelsy", den rassistischen Minstrel-Shows, in denen weiße Menschen wie der Rapper Eminem ziemlich stereotyp Schwarze darstellen. Kann man als widerwärtig empfinden, andere nehmen es mit Humor, wie der Ex-Basketball-Star Charles Barkely. Er fragte damals, in was für einer Zeit wir leben, in der der beste Rapper weiß, aber der beste Golfer Schwarz ist.

Aneignung nicht ohne Aufklärung, Toleranz und Respekt

HipHop, darauf weist Greg Tate noch hin, hat mehr Geld in die Hände von Russell Simmons, Puff Daddy und anderer schwarzer Künstler*innen und Manager gespült als irgendwas sonst. Damit sei Hip-Hop ein Meilenstein innnerhalb der amerikanischen Kulturgeschichte. Was Hip-Hop nicht geschafft hat, das allerdings ist die Ungleichheiten im Wohnen, der medizinischen Versorgung und dem Bildungssystem zu beseitigen. Daran müssen wir arbeiten, nicht an einer wie auch immer lupenreinen Kunst. Greg Tate schrieb schon 2003 in seinem Buch mit dem Untertitel "Was sich weiße Menschen von schwarzer Kultur nehmen":

"Warum bitteschön liebt fast jeder Schwarze Musik, aber fast niemand liebt People of Colour?"

Greg Tate

Es ist mir beim Schreiben dieses Artikels bewusst, dass ich als älterer weißer Mann eine Menge Privilegien habe und eher ein Nutznießer bin von dem, was man kulturelle Aneignung nennt. Diese Aneignung darf nicht passieren ohne Aufklärung, Toleranz und Respekt. Als ich in der Schule am Ende der Kollegstufe ein Thema für meine Facharbeit finden musste, habe ich voller Bewunderung Bob Marley gewählt und das politische System Jamaikas. Das wird Bob Marley keine zusätzlichen Royalties eingebracht haben, meine Hochachtung aber schon.

Mit Bewusstsein für unsere Position und unseren Privilegien

Popkultur wird bums-fad und sterben, wenn sie keine Einflüsse from around the world mehr aufnimmt. Die queere DJ Bashkka, die regelmäßig im Münchner Blitz-Club auflegt, sagte vor kurzem, DJs, die nur ein Genre bedienen, langweilen sie zu Tode. Aber Bashkka legt im Gespräch mit dem DJ-Lab auch den Finger in die Wunde. In der Techno- und House Music herrsche immer noch viel Kolonialismus. Sie sehe ihre Aufgabe darin, Dinge zu verändern mit dem Ziel, mehr "Safer Spaces" zu schaffen und eine repräsentative Quote von weiblichen, queeren und BIPoC-DJs im Line-Up. Leider, und daran müssten wir wirklich arbeiten, verhandele man in dem Musikgeschäft oft mit weißen cis-Männern.

Wann immer wir uns Dinge aneignen von Stilen, die möglicherweise nicht die eigenen sind, sollten wir das im Bewusstsein unserer Position dazu und unserer Privilegien tun. Und das ohne Ausbeutung, sondern mit Hochachtung und in Kenntnis der jeweiligen Geschichte. Natürlich sollten weiße Musiker Dreadlocks tragen dürfen, solange sie die Reggae-Kultur respektieren. Und Jazzmusiker of Colour genau wie Polen und Weißrussinnen gerne Lederhosen oder eine bayerische Tracht, wenn sie zur Oktoberfestzeit in München sind. Und ich würde jedenfalls gerne und mit Freude auf der Punky Reggae Party bleiben.