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Das Corona-Tagebuch Die Sehnsucht ist leise und beinahe kindlich

Die Schriftstellerin Lena Gorelik sucht nach Gründen fürs Fahrrad fahren, neidet ihren Nachbarn die "Balkon-Besuche" und träumt von dem Tag, an dem sie ihre Eltern endlich wiedersehen kann.

Von: Lena Gorelik

Stand: 24.04.2020 | Archiv

Lena Gorelik; Schriftstellerin | Bild: picture alliance/VisualEyze

Ich jogge neuerdings durch den Park. Ich bin eine von denen, über die sich echte Sportler*innen lustig machen: Ich jogge sonst nicht, gehören zu denen, die nur wegen Corona joggen. Ich komme sehr schnell aus der Puste, den Spaß, den andere beim Sport empfinden, verspüre ich nicht. Beim Laufen telefoniere ich mit meiner Mutter, ich höre lange am Stück zu, weil ich so aus der Puste bin. Sie läuft, während wir telefonieren, auch sie läuft gerade einen Hang hoch. Einmal sind wir beide so außer Atem, dass keine von uns spricht; ich wundere mich über die Nähe, die dieser Tage durch das Telefon kriecht. Die Sehnsucht ist leise und beinahe kindlich: Wie, wenn man als Kind aus dem Ferienlager anrief.

Unterm Balkon

Wenn Freund*innen erzählen, dass sie ihre Eltern „unterm Balkon“ besuchen – das scheint das neueste Corona-Ding zu sein; es gibt ja jetzt Corona-Trends – dass sie sich vor den Balkon der Eltern setzen, stellen, um Liebesworte oder Alltäglichkeit hinauf zu rufen, kriecht Neid hinauf. Meine Eltern wohnen für einen Balkonbesuch zu weit weg. Ich male mir einen solchen Besuch ein wenig aus, wie ich vor dem Fenster stünde, wie ich hinauf winken würde, wie ich rufen würde, ich weiß nicht, ob es mir vielleicht unangenehm wäre, dass die Nachbarn mich hören, wie meine Mutter mir vielleicht etwas herunter würfe, ich weiß gar nicht, was. Vermutlich etwas zu essen. Ich male ihn mir aus, diesen Balkonbesuch, weil er einfacher als eine Umarmung vorzustellen ist.

Ich möchte einen Grund haben, ein Ziel

Ich hasse laufen, sage ich zu meiner Mutter, ich spreche keuchend in die Kopfhörer hinein. Dann geh doch Fahrrad fahren, schlägt sie vor. Ich schüttle den Kopf, sie kann das nicht sehen. Das macht nichts, dass sie das nicht sehen kann, ich schüttle den Kopf eh für mich, um das, was sich anfühlt, zu bestätigen. Ich mag nicht Fahrrad fahren, um Fahrrad zu fahren, ich mag Fahrrad fahren wohin. Ich möchte zu jemandem fahren, zu einem Termin, ich möchte einen Grund haben, ein Ziel. Ich möchte das Haus verlassen, um irgendwo anzukommen. Das Irgendwo darf kein Supermarkt sein. Ich möchte auf die Uhr blicken, wenn ich an der Ampel halte, ich möchte denken, hoffentlich bin ich nicht zu spät.

Ob wir uns wiedersehen?

Meine Mutter erzählt mir von meiner Tante und meinem Onkel in New Jersey, sie leben eine Busstunde von New York entfernt. Sie haben Angst, sagt meine Mutter, haben Angst, auf die Straße zu gehen. Sie sind alt, mein Onkel, klein, gebückt, der feinste aller Menschen, lungenkrank, seit ich denken kann. Vielleicht schon immer, ich habe nie gefragt, seit wann. Ihre Tochter lebt in Kanada, der Sohn sechs Flugstunden weit weg. Mit der kleinen Enkelin skypen sie, erzählt meine Mutter, und wenn sie auflegen, weinen sie; sie sagen, sie wissen nicht, ob sie sie wiedersehen. Sie hatten einen Flug im März gebucht, den haben sie umgebucht auf den Juli, jetzt wissen sie nicht, sollen sie gänzlich stornieren. Ja, sagt meine Tante, dann bekommen wir einen Teil des Geldes zurück. Nein, sagt mein Onkel, ich kann ihn nicht, diesen Gedanken ertragen, dass ich sie nicht wieder sehe, die kleine M.

Die Angst der Kinder

Meine Mutter sagt, sie hatte keinen guten Abend nach diesem Telefonat, sie dachte an ihre eigenen Enkelkinder, die sie nicht sehen kann. Die eigenen Enkelkinder: Gestern schickte ich die beiden in den Innenhof zum Spielen, frische Luft für sie und eine Stunde für mich, in der ich arbeiten kann, ohne eben: Kinder. Während sie unten waren, klingelte das Telefon für sie, und als sie hoch kamen, erzählte ich ihnen davon. Wascht Euch die Hände, sagte ich, dann erzähle ich Euch davon. Sie kamen mit Tränen in den Augen aus dem Badezimmer. Was ist denn mit Euch, fragte ich überrascht. Wir dachten, der Anruf sei wegen Oma und Opa, sagten sie. Dass sie an Corona gestorben seien.


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