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Das Corona-Tagebuch Mein Verlangen nach Kultur und Party erscheint einem Durchschnittspolitiker als Luxusproblem

Zwischen Lockdown und Corona-Regeln vermisst unser Autor Roderich Fabian besonders den Zufall: Was ist aufregender, als in die Nacht hinauszutreten, ohne genau zu wissen, was passieren, wer einem begegnen wird? Ein Plädoyer.

Von: Roderich Fabian

Stand: 23.03.2021 | Archiv

Roderich Fabian | Bild: BR

Ich war kürzlich tatsächlich mal wieder im Deutschen Museum in München. Ich glaube, es sind Jahrzehnte vergangen, seit ich das letzte Mal da war. Ich habe das nachgebaute Bergwerk wiedergesehen und die echten Schiffe und Flugzeuge, die dort ausgestellt sind, und die vielen Apparaturen, an denen die Besucher herumrücken oder -ziehen dürfen.

Das Deutsche Museum stellt ja eher Technik-Geschichte aus als Kunst. Aber immerhin war es ein Museumsbesuch, also ein Kulturerlebnis ohne die Verwendung eines Computers, sieht man mal von der Online-Kartenreservierung ab. Es war ein überfälliger Schritt meinerseits, die Erfüllung einer Sehnsucht, ein kleiner Schritt in ein Leben, das ich mal gewohnt war.

Kulturgenuss und Ausgehen gelten als zweitrangig

Es gehörte früher zu meinem Alltag, mich ständig unter Menschen zu begeben und gemeinsam etwas zu erleben. Nicht unbedingt nur Kulturveranstaltungen, gerne auch einfach – umgeben von Freunden, Bekannten, aber auch von Fremden – gleichzeitig zu Abend zu essen, zu trinken und zu feiern.

Kulturgenuss und Ausgehen – das sortiert man in der Politik, der Einfachheit halber, unter dem Begriff „Freizeit“ ein. Und der Bereich „Freizeit“ gilt bei unseren Regierenden traditionell als zweitrangig. Als Ende Oktober 2020 der zweite Lockdown von der Kanzlerin und den Ministerpräsident*innen der Bundesländer beschlossen wurde, machte Angela Merkel eindeutig klar, wo die Prioritäten der Regierenden liegen.

„Wo können wir Kontakte einschränken?“, fragte sie auf der Pressekonferenz zu den damaligen Maßnahmen in Berlin – und gab die Antwort: „im Freizeitbereich“. Nur so könne die Zahl der Kontakte reduziert werden, so Merkel, „wissend, dass das Härten mit sich bringt und wissend, dass da viele Hygiene-Konzepte entwickelt worden sind, sowohl im Bereich der Kultur als auch im Bereich der Gastronomie und dass sich viele Menschen verantwortlich verhalten haben, aber in der Abwägung: Wie kommen wir mit der Zahl der Kontakte runter, ohne das Wirtschaftsleben, das Schul- und Kita-Leben zu gefährden, haben wir uns so entschieden. Und wir glauben, dass das auch verhältnismäßig und politisch wirklich vertretbar ist.“

Man hätte auch anders entscheiden können

Die Kanzlerin begründete also noch einmal, und aus ihrer Sicht durchaus einleuchtend, warum es den „Freizeitbereich“ besonders traf und weiterhin trifft. Er ist sozusagen der Verlierer bei der Abwägung mit dem Wirtschafts- und Bildungsbereich. Und damit bin auch ich der Verlierer, ebenso wie einige andere.

Man hätte auch anders entscheiden können. Der effektivste Weg wäre, für ein paar Wochen die gesamte gesellschaftliche Aktivität runterzufahren, also auch Wirtschaft und Bildung, um unter dem Motto „NoCovid“ radikal gegen die Ausbreitung des Virus vorzugehen. Stattdessen reduziert man aktuell dort, wo es einfacher ist, allerdings auch schwerer zu überwachen: im Privatleben der Bürger*innen und in der „Freizeit“.

Erst kommt das Fressen und dann die Musik

Denn weder Privatpersonen noch Kulturveranstalter*innen verfügen in Berlin über eine wirkmächtige Lobby. Und die Politik hat es einfach wesentlich häufiger mit Vertreter*innen der Autoindustrie als mit Freiberufler*innen aus dem – sagen wir mal – Theaterbereich zu tun. Künstler*innen gelten ihnen in aller Regel als schräge Paradiesvögel, die eben keine Ahnung von den „Sachzwängen“ der Marktwirtschaft haben.

Soloselbstständige demonstrieren im Dezember 2020 vor dem Finanzministerium in Berlin

Aber klar, frei nach Bertolt Brecht: Erst kommt das Fressen und dann die Musik. Mein unerfülltes Verlangen nach Kultur, nach Ausgehen, nach Party erscheint einem Durchschnittspolitiker als Luxusproblem. Dabei gehört das Sich-unter-Leute-Begeben zu den schönsten Dingen, die man erleben kann. Denn hier kommt ein Faktor ins Spiel, den die Politik am Liebsten komplett ausschließen möchte: der Zufall!

Der Faktor Zufall

Was gibt es Aufregenderes, als in die Nacht hinauszutreten, ohne genau zu wissen, was passieren, wer einem begegnen wird? Wer kennt nicht beispielsweise das Gefühl, sich auf eine Party vorzubereiten, ohne zu wissen: Ist er, ist sie heute da? Wie wird es laufen? Alles ist möglich! Die Ungewissheit der Zukunft kann etwas so Wunderbares sein.

Oder eben etwas ganz Schreckliches. Die Ungewissheit, wie es mit der Pandemie weitergehen wird, macht vor allem unsere Regierenden ganz fertig. Aber weil sie nicht wissen, was das Virus als nächstes macht, machen sie vor allem da den Laden dicht, wo am wenigsten Widerstand zu erwarten ist. Und das geht bei den ohnehin immer auch an sich selbst zweifelnden Künstlern eben besser als bei den von sich überzeugten Wirtschaftskapitänen.

Und all die jungen, talentierten Leute, die in diesen Corona-Jahren die Schulen verlassen und nun vor der Wahl stehen, sich der Kunst zuzuwenden oder doch lieber etwas „Wertschöpfendes“ zu machen – wie werden die sich wohl entscheiden? Wahrscheinlich eher dafür, ein Flugzeug zu bauen als eines zu malen. Mit ein bisschen Glück landet dann wenigstens trotzdem mal eines ihrer Werke im Museum, im Deutschen Museum in München. 


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