Bayern 2 - Zündfunk


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Das Corona-Tagebuch Wir dürfen in diesen grausigen Oktobertagen nicht nebeneinander her leben

Seit sieben Monaten leben wir jetzt mit Corona, haben gelernt, immer wieder miteinander zu reden, vorzufühlen, und auf einander einzugehen. Jetzt steigen die Zahlen wieder rapide. Kontakt ist gerade jetzt wichtig.

Von: Franziska Timmer

Stand: 16.10.2020 | Archiv

Franziska Timmer | Bild: BR/Lisa Hinder

Auf den Tag genau sieben Monate ist es her, dass Markus Söder sich vor die Presse stellt und den Katastrophenfall für Bayern ausruft. Auf den Tag genau sieben Monate ist es her, dass ich in Portugal am Meer stehe und einer Freundin schreibe: "Du wirst es nicht glauben, aber ich bin in Lissabon." "Warum?", fragt sie. Ich: "Weil wir nicht wussten, wann wir aufhören sollen zu leben." Es ist auch der Tag, an dem Außenminister Heiko Maas von "nicht notwendigen Reisen ins Ausland" abrät. Ab diesem Tag also bewege ich mich im Urlaub in einer Grauzone.

Soziale Distanz – ein Gegensatz, der auf einmal zusammengehört

Zwei Tage später bin ich zurück in München, ziehe meinen Rollkoffer hinter mir her, vorbei an provisorisch an den Schaufenstern befestigten Zetteln: "Wegen Corona bleibt unser Geschäft vorübergehend geschlossen". Die Straßen sind leer, das Leben findet jetzt hinter Vorhängen, Rollläden, Einfach-, Zweifach-, Dreifachverglasungen statt. "Challenge accepted", denken wir uns. Abstand heißt Anstand. Soziale Distanz – ein Gegensatz, der auf einmal zusammengehört. Ich tanze mit Kopfhörern durch die Wohnung, gehe virtuell auf einen Rave in Berlin, schreibe währenddessen mit Freund*innen, die dasselbe tun. Im Geiste vereint, oder so. Ein spannendes Experiment, solange es neu ist. #stayathome – noch: keine Grauzone.

Irgendwann im Juni kommt das Leben wieder. Die Grenzen öffnen sich. Trotz Maske über Mund und Nase: Aufatmen. Der Spuk macht Pause. Ich sehe Menschen, die sich auf offener Straße wieder umarmen, die vorsichtig gelöst an den Take Away Bars der Stadt stehen. Wenn sich alle gut fühlen, dann kann ich das auch. Ein einfacher Mechanismus. Auch ich umarme meine Familie und meine Freund*innen wieder. Vorausgesetzt, es ist in Ordnung für alle Umarmenden. "Ist es ok für dich, wenn ich dich in den Arm nehme?", eine Frage, die ab sofort zum guten Ton gehört. Berührung bleibt eine Grauzone.

Söders Corona-Ampel springt wieder auf Rot

Anfang September bin ich Gast auf zwei Hochzeiten – auf zwei Privatfeiern mit rund 90 Gästen, Feste der Liebe und der sozialen Nähe. Es wird gegessen, es wird getrunken, es wird getanzt - es wird gelüftet. Und ja, es ist verdammt schön! Das erste Mal tanzen seit der letzten Clubnacht. Wir fühlen uns lebendig! Vielleicht auch, weil wir schon ahnen, dass es bald wieder vorbei ist mit dem Leben. Wir schließen die Augen: keine Grauzone. Die Ampel ist grün. Und jetzt springt Söders Corona-Ampel auf Rot. Für mich hier in München und Landshut heißt das: Keine privaten Feiern mit mehr als vier weiteren Menschen. Auf der Seite der Staatsregierung wird bereits vor weiteren Beschränkungen gewarnt, falls der Anstieg der Infektionszahlen nicht binnen zehn Tagen zum Stillstand kommt. Graue Aussichten…

Mein Handy meldet sich. "Hast du heute Abend etwas vor? Wir kochen bei mir groß auf. Wären mit dir zu viert." Vor einem Jahr wäre mir noch egal gewesen, wie viele Menschen an so einem Abend zusammenkommen. Ich hätte mir diese Frage überhaupt nicht gestellt. Ist "höchstens fünf" das neue "Alle"? Und da wird mir etwas klar, was ich in den letzten sieben Monaten gelernt habe. Wir müssen immer wieder miteinander reden, vorfühlen, nachfragen und Ängste akzeptieren. Wir stecken gerade alle in derselben Scheiße. Und eins dürfen wir dabei nicht: Nebeneinander her leben, vor allem nicht in diesen grausig grauen Oktobertagen.


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