Bayern 2 - Zündfunk

Das Corona-Tagebuch Sollen wir jetzt persönlich die Pandemie managen?

Selbstheilungskräfte gibt es, aber man sollte sie nicht strapazieren. Nicht, dass die Politik eines baldigen Tages noch beschließt, dass jeder und jede einzelne von uns die Pandemie in Eigenverantwortung bewältigen soll. Ein blöder Gedanke, aber so weit scheinen wir davon gerade gar nicht mehr weg zu sein, kommentiert Caroline von Lowtzow.

Von: Caroline von Lowtzow

Stand: 01.12.2021 | Archiv

Caroline von Lowtzow | Bild: BR

"Wichtig ist, dass wir jetzt alle gemeinsam handeln." Das schrieb Frank Walter Steinmeier am 28. November, also am 1. Advent, in der Bild am Sonntag. "Halten wir uns an die Regeln, reduzieren wir noch einmal unsere Kontakte. Tun wir es, damit Schulen und Kitas nicht wieder schließen, damit wir das öffentliche Leben nicht wieder vollständig herunterfahren müssen. Tun wir es vor allem, um Menschenleben zu retten."

Lieber Bundespräsident Frank Walter Steinmeier,

ja, es ist wichtig, dass wir jetzt alle gemeinsam handeln. Aber noch wichtiger wäre, dass Regierung und Parlament handeln, dass sie Entscheidungen treffen. Ich wundere mich, dass dieser Apell nur an uns Bürgerinnen und Bürger geht und nicht in erster Linie an Ihre Kolleginnen und Kollegen aus der Politik. Aber da will zur Zeit niemand handeln, niemand entscheiden. Neue wie alte Regierung warten lieber ab und schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu.

Haben alle vergessen, was letztes Jahr war?

Es ist nicht so, dass ich das nicht verstehen kann. Ich bin heilfroh, dass ich all diese Entscheidungen der letzten Pandemie-Jahre nicht treffen musste und wollte nicht in der Haut eines Gesundheitsministers stecken. Aber zeigt nicht gerade die Erfahrung aus der letztjährigen Vorweihnachtszeit, dass Abwarten statt Entscheiden alles verschlimmert? Politik scheint leider ein kurzlebiges Metier zu sein – wahrscheinlich haben alle längst vergessen, was letztes Jahr war.

Auch was vermutlich kommt. Denn sonst hätte eine zukünftige Ampel-Koalition nicht Lockdowns ausgeschlossen, was ihnen jetzt schon wenige Wochen später auf die Füße fällt. Und sonst hätten bestimmte Politikerinnen und Politiker eine Impflicht nicht so vehement abgelehnt wie sie sie jetzt fordern. Sonst hätten nicht Teile der FDP einen Freedom Day gefordert, an dem die Pandemie vermeintlich vorbei ist und alle Maßnahmen aufgehoben werden können. Überraschung, dass sich jetzt Leute betrogen fühlen, dass sie kein Wort mehr von dem glauben, was da verkündet wird, dass sie vielleicht auch daran zweifeln, dass Impfen wirksam ist und die Lage auf den Intensivstationen wirklich so schlimm ist.

Wir sollen also jetzt persönlich die globale Pandemie managen!

Wenn Regierungen und Parlamente sich nicht entschieden wollen, keine Position vertreten wollen, dann müssen also wir Bürger ran. Jetzt müssen wir also auch die Pandemie selber handeln, selber Lösungen finden: Wir sollen eigenverantwortlich große Events meiden, wir sollen eigenverantwortlich nicht mehr ins Fitnessstudio, die Betriebe sollen eigenverantwortlich ihre Leute heimschicken. Aber es ist doch absehbar, dass es nicht nachhaltig ist, einen Lockdown rauszuzögern, sondern dass sich dann alles nur noch mehr verschleppt: Menschen sterben weiter, ein Lockdown kommt irgendwann doch und Schulen müssen doch wieder geschlossen werden, kein Problem, die Eltern werden es im Homeschooling schon wuppen. Wir sollen also jetzt persönlich die globale Pandemie managen!

Sollen wir das in Zukunft mit allen Krisen machen? Einfach als Einzelperson bisschen weniger Plastikverpackungen in Supermärkten kaufen, oder? Lieber als Einzelperson entscheiden, ob ich Fleisch aus der Massentierhaltung kaufe, statt Massentierhaltung zu verbieten? Einfach als Einzelperson entscheiden, ob ich auf der Autobahn rase oder nicht? Freiheit! Verbote, Richtlinien, Vorgaben gehen offenbar nicht mehr: statt einem Tempolimit lieber alle paar Hundert Meter Schilder, die vor Unfällen warnen. Statt einem Veggieday lieber die Salate in der Kantine attraktiver präsentieren. Eine Lösung, die nicht aneckt. Doch bin ich wirklich selber schuld, wenn mein T-Shirt aus blutigen Kinderhänden kommt? Hab ich als Einzelperson die ganze Lieferkette im Blick zu haben?!

Thilo Bode –Gründer von Greenpeace und später Foodwatch sagte neulich resigniert: Verbraucher sind machtlos. Klar, müssen wir auch mit handeln– das reicht aber nicht. Und da ist Corona nur ein Beispiel von vielen.