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Das Corona-Tagebuch In normalen Zeiten fällt das Fehlen von Solidarität einfach weniger auf als in der Krise

Seit dem Corona-Frühjahr reden alle von Zusammenhalt und Solidarität, die jetzt besonders wichtig wären. Doch gibt es auf der ganzen Welt nicht jeden Tag ständig Situationen, in denen Menschen Hilfe brauchen? In einem Stream of Consciousness teilt Alba Wilczek ihre persönlichen Gedanken zum Thema.

Von: Alba Wilczek

Stand: 23.06.2020 | Archiv

Alba Wilczek | Bild: picture-alliance/dpa

Letzten Samstag in Nürnberg. Ich bin mit meiner Mutter in der Stadt verabredet, um Wanderschuhe zu kaufen. Wir wollen uns in der der U-Bahn treffen, und während ich mit der Rolltreppe nach unten fahre, betrachte ich die Menschen, die am Bahngleis stehen. Alle tragen Masken. Den Blick geradeaus auf die Reklame gerichtet. Ich steige von der Rolltreppe und bleibe mit meinem Blick an der Mitte des Bahnsteigs hängen. Ein Mensch liegt am Boden. Ich stutze. Es sieht unnatürlich aus. Fast wie ein Gemälde. Modern Art, verstörend. Sekundenbruchteile lang ordne ich das Bild ein. Was passiert hier? Was ist hier falsch? Währenddessen geht ein Mann an der Person auf dem Boden vorbei. Er fummelt seine Maske um seine Ohren. Wirft einen kurzen Blick auf seine Uhr. Sieht er denn nicht, was zu seinen Füßen passiert? Er setzt sich auf eine Bank. Ich werde unruhig. Niemand regt sich. Sehe nur ich das?

Ein Mensch liegt am Boden - Niemand regt sich

Geplapper von zwei älteren Damen wird lauter. Ich laufe zu der Person hin und ziehe mir meine Maske übers Gesicht. Dann knie ich mich hin, rufe laut „Hey, geht es Ihnen gut?“. Meine Stimme hallt im Bahnsteig und schneidet in das gedämpfte Geplappere. Ich rüttle sie kräftig am Arm. Mir wird immer mulmiger. Ich gucke die Person etwas genauer an. Es scheint eine Frau Anfang 30 zu sein. Etwas verlottert. Sie reagiert nicht. Immer noch bin ich die einzige Person bei ihr am Boden. Ich gucke hoch. Nur ganz kurz. Starrende Blicke begegnen mir. Ich werde sauer. Ein Mann ist gerade dabei seinen Sohn in den Rollstuhl zu hieven. Er steht mir am nächsten. Ich rufe, ob er mir vielleicht helfen kann. Er reagiert nicht gleich. Guckt mich für zwei Sekunden an und dreht den Rollstuhl mit seinem Sohn schließlich weg vom Aufzug und in meine Richtung. Langsam, fast zögernd schiebt er den Stuhl in meine Richtung.

Ich gucke wieder hinunter auf den Boden. Die Gesichtszüge der Frau entgleiten. Dann reißt sie plötzlich ihre Augen auf, murmelt etwas und steht ruckartig auf. Sie ist schneller aufgerichtet als ich, die noch kniet. Sie brabbelt etwas. Ich frage, ob sie Wasser braucht. Ob es ihr gut geht. Doch sie wimmelt mich ab und torkelt davon. Am Ende des Bahnsteiges setzt sie sich auf eine Bank. Dann guckt sie mich an von weitem. Ihr Blick ist leer. Durchdringend. So leer wie mein Kopf. Im Hintergrund wird das Geräusch einer U-Bahn immer lauter. Also reiße ich mich los, drehe mich um und danke dem Herrn mit dem Sohn im Rollstuhl. Für was eigentlich? Dafür, dass er zumindest gezögert hat? Gewartet hat, ob ich Hilfe brauche? Ich steige in den Zug ein. Meine Mutter bemerkt meinen Blick sofort. Ich erzähle ihr, was passiert ist. Mir kommen die Tränen. Doch ich unterdrücke sie. Lasse mir nicht anmerken, was die letzten fünf Minuten mit mir gemacht haben.

War die Frau am Boden einfach nur die falsche Kandidatin für Solidarität?

In diesem Corona-Frühjahr war Solidarität plötzlich überall. Nachbarschaftshilfe hier. Kostenlose Masken für alle dort. Solidaritäts-Hashtags all over the Internet. In einem Interview mit dem WDR hat ein Politologe neulich gemeint: Bei Corona seien wohl viele Menschen eher bereit zu helfen, weil ihre Mitmenschen unverschuldet in Gefahr geraten sind. Aha. Ich verbinde die Punkte. Die Frau am Boden. War sie also einfach nur die falsche Kandidatin für Solidarität? Ist sie herausgefallen aus dem Zulassungs-Raster: Alt, krank und ohne Schuld? Ich stelle mir die Menschen von der U-Bahn-Haltestelle als eine Jury mit Punkte-Schildern vor: „Nö. Also von mir Null Punkte. Da ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die sich selbst in diese Lage gebracht hat. Gesoffen oder so. Selber schuld. Der helfen wir nicht. So weit kommt’s noch.“

Ich muss an meinen Opa denken. Letztes Jahr ist er im Kaufhaus auf der Rolltreppe gestürzt. Sein Herz hat ausgesetzt, sein Herzschrittmacher versagt. Damals hat ihn jemand fünf Minuten lang wiederbelebt. Ein Arzt in Rente, der zufällig vorbeigekommen ist. Aber da ist noch ein anderes Bild. Ein Vorfall, der vor ein paar Jahre Schlagzeilen gemacht hat. Ein älterer Mann verlor damals in einer Essener Bankfiliale das Bewusstsein. Er starb am helllichten Tag vor einem Bankautomaten. 30 Minuten lag er am Boden bis jemand endlich einen Notarzt rief. 30 Minuten, in denen mehrere Leute über seinen Körper stiegen, ohne sich um ihn zu kümmern. Im Nachhinein sind zwei Männer und eine Frau wegen unterlassener Hilfeleistung zu Geldstrafen verurteilt worden. Sie mussten blechen. Für das Fehlen ihrer Solidarität.

Ständig Situationen, in denen Menschen Hilfe brauchen

Ein paar Tage nach meinem U-Bahn-Erlebnis sagt Angela Merkel, dass Zusammenhalt und Solidarität in Europa noch nie so wichtig waren wie heute. Aber das stimmt nicht. Jahr für Jahr, Woche für Woche, Tag für Tag entstehen überall auf der Welt ständig Situationen, in denen Menschen Hilfe brauchen. An U-Bahnhöfen. An EU-Außengrenzen. In Flüchtlingslagern. Im Kampf gegen Rechtsextremismus. Ist das aufeinander Schauen dort wirklich nicht so wichtig, wie jetzt in Krisen-Zeiten? Doch. Ist es. In normalen Zeiten aber fällt das Fehlen von Solidarität einfach weniger auf. Verdammte Scheiße.


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