Bayern 2 - Zündfunk


55

Das Corona-Tagebuch Corona könnte ein System Changer sein

Heute gibt Zündfunk-Autorin Julia Fritzsche einen Einblick in ihren Corona-Alltag - und in ihre Gedanken darüber, was die Krise alles verändern könnte. Können wir die Situation als Chance begreifen?

Von: Julia Fritzsche

Stand: 18.03.2020 16:53 Uhr | Archiv

Autorin Julia Fritzsche | Bild: Julia Schaerdel

4 Uhr morgens. Oder 5? Oder 6? Ich weiß es nicht. Ich liege, schwitze. Ich sehe meine 78-jährige lungenvorerkrankte Mutter röchelnd vor dem Krankenhaus, sie wird nach Hause geschickt, die Jungen zuerst, ruft jemand. Lass diese Fantasien, sagte meine Freundin Laura gestern. Die tun nicht gut. Ich drehe mich um, versuche zu schlafen. Ich spüre die Wärme meines Bettes. Wie ist das jetzt als Obdachlose, wenn die Unterkünfte zu voll sind? Wie ist das als Refugee in Idlib, wenn das Virus da hin kommt – und ich mir nicht mal die Hände waschen kann? Ich ziehen das Kissen über den Kopf.

Wie schnell kommen die sozialen Verwerfungen?

7 Uhr. Mein Hals schmerzt. Heißen Tee aus der Kanne. Gurgeln. Bei so und so viel Grad sterben die Viren, heißt es. Ich stehe auf. Hilft ja nichts, bin eh hellwach. Gerädert, aber hellwach. Meine Wohnung hab ich für mich allein, aber ärmere Familien sitzen jetzt zu fünft, sechst, siebt auf engem Raum. Die Gewalt gegen Frauen hat sich in Peking während der Quarantäne verdreifacht. Wieder Mal trifft es die Prekären, denke ich. Vor allem die Armen sitzen ja eng aufeinander. Die Asylsuchenden auch. Die haben kein Loft, wo man sich easy aus dem Weg gehen kann. Die Minijobber trifft es, die ihre Arbeit verlieren. Die Rentnerinnen, die sich jetzt nichts mehr dazuverdienen können oder vor geschlossenen Suppenküchen stehen.

Apropos Suppe, schnell einen frischen Tee. Bloß gesund bleiben. Wenn jetzt Vermieter nicht kulant sind, denke ich, und die Miete erlassen, verlieren viele Menschen ihre Wohnung. Wie schnell kommen die sozialen Verwerfungen? Wird es wieder heißen: Die Armen sind „selbst schuld“? Wie reagieren wir, wenn unser Grundrecht auf Versammlung weiter außer Kraft gesetzt wird? In Dänemark bis April 2021. Was kommt da noch? Wieviel Ausgrenzung, wenn noch mehr Menschen in Armut geraten, depressiv werden, das Virus in Asylheimen ausbricht? Die Rechten sind unheimlich still gerade noch.

Kids, Kochen, Küche, Kranke – all das wird jetzt sichtbar

Zum Tee kommt jetzt noch Kaffee. Und Wut –seit Jahren schreibe ich gegen Kürzungspolitik an, weil sie tötet. Vor allem in Krankenhäusern. Weil das Gesundheitssystem einer Profitlogik unterzogen wird, wonach Labore, Zusatzbetten und ganze Krankenhäuser schließen, weil sie sich nicht rentierten. Seit Jahren begleite ich die Streiks der Pflegekräfte für einen Personalschlüssel, den Spahn jetzt aussetzen will. Dabei ist gerade in Krisen Strenge, Arbeitsschutz, Hygiene wichtig, und Zeit, um das Desinfektionsmittel 30 Sekunden einwirken zu lassen. „Wir arbeiten jetzt ohne Mundschutz mit hochinfektiösen Patienten, die multiresistente Keime haben“, schrieb eine Pflegekraft diese Woche auf Twitter.

Wenigstens das, denke ich: Kids, Kochen, Küche, Kranke – all das wird jetzt sichtbar. Ich mache Frühstück, Bett und die Geschirrspülmaschine an. Wer drei Mal so viel Zuhause ist, muss auch drei Mal so viel Aufräumen, Kochen, Einkaufen, Putzen. Diese Arbeit ist sonst für Viele unsichtbar. Jetzt müssen wir uns selber bekochen, nicht Frauen in der Kantine. Jetzt müssen wir selber putzen, weil Malika wegen Social Distancing abbestellt ist – wird sie eigentlich weiterbezahlt?

„Jetzt hellwach bleiben, gerädert, aber hellwach“

10 Uhr. Ich öffne meine Mails. Ich entdecke die Petition des „Care-Slam“, einer Gruppe von Pflegefachkräften: Sie ist an Gesundheitsminister Spahn gerichtet. „Besorgen sie Schutzmaterial, notfalls durch Verstaatlichung von Herstellern und Zulieferern.“ Die Pflegefachkräfte wollen außerdem ein Einstiegsgehalt von 4.000 Euro. Über die Finanzierung könne Spahn sich später Gedanken machen. Ich unterschreibe.

Halb zwölf: ich koche schon wieder. Gleich werde ich meine Mutter im Park treffen, mit zwei Metern Abstand spazieren. Die Tischtennisplatte, an der wir sonst spielen, ist jetzt gesperrt. Corona könnte ein System Changer sein. Wenn wir Pech haben, in die eine Richtung: wir gewöhnen uns an hartes Durchgreifen und Ausnahmezustand. Wenn wir uns anstrengen, in die andere Richtung: wir sorgen uns um einander und diskutieren, wie wir leben wollen und welche Wirtschaftsbereiche uns versorgen: Pflege, Bildung, Landwirtschaft, Medizin, Autobau, Rüstung, Kohlekraft, Werbung?

Ich notiere mir ein To Do: „Jetzt hellwach bleiben, gerädert, aber hellwach“

Julia Frtzsche ist Autorin und freie Redakteurin bei Bayern 2.


55