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Das Corona-Tagebuch Bist du auch so müde? Warum die Corona-Müdigkeit Fluch und Segen zugleich ist

Es gibt Tage, da sind Müdigkeit und Stress in der Corona-Krise kaum auszuhalten. Unsere Autorin Caroline von Lowtzow verspürt häufig den Drang, einfach mal Nichts zu tun. Sie findet trotzdem: Die Corona-Müdigkeit, kann nicht nur anstrengend, sondern auch befreiend sein.

Von: Caroline von Lowtzow

Stand: 22.12.2020 | Archiv

Workin Germany Redakteurin Caroline von Lowtzow | Bild: BR/Max Hofstetter

„Bist du auch so müde“, fragte mich neulich eine Nachbarin im Hof. Wir hatten gerade unsere Kinder in die nahegelegene Grundschule gebracht. Es war kurz vor 8 und ja – ich war auch müde. So müde, dass ich mich am liebsten gleich wieder ins Bett gelegt hätte.

Corona-Stress im Lockdown 2

Keine Videokonferenz führen, keine Corona-Zahlen hören, keine Pausenbrote machen müssen, keine Trump-Fake-News mitbekommen, nicht einkaufen, aufräumen, den Musikunterricht der Kinder via Sykpe organisieren. Keine Debattenbeiträge über Lisa Eckardt, die BDS-Kampagne und über Meinungsfreiheit oder die Bedrohung derselben lesen, niemanden zu Hausaufgaben antreiben, kreativ sein – das alles einfach NICHT machen müssen.

Aber es hilft ja nichts. Es ist zwar Lockdown – aber arbeiten müssen wir trotzdem. Oftmals sogar mehr als vorher. Mehr reden, umsichtiger sein, die nicht vergessen, die den Anschluss verlieren, kein ZOOM, TEAMS oder YITZI haben. Wo früher ein Gespräch mit den Kolleginnen alles klärte, sind jetzt viele Gespräche nötig. Der Chat bingt in heavy Rotation auf meinem Handy und treibt mich in den Wahnsinn, während ich parallel videokonferiere, das Festnetz klingelt, ich Emails schreibe oder gerade an der Supermarkt-Kasse stehe, weil ja man ja auch ab und zu noch was essen muss. Vieles hat sich eingegroovt über die Monate, das stimmt, aber vieles bleibt anstrengend. Vor allem ist vieles Schöne einfach weggefallen. Keine Leichtigkeit nirgends, keine Unbeschwertheit - wenn man mal von einer kurzen Phase des Durchschnaufens im Sommer absieht.

Die Kräfte raubende Kombination aus homeschooling und homeoffice vom ersten Lockdown wirkt bis heute nach. Die ständige Sorge um die Corona-Lage, um die finanzielle Situation, ob und wann die Schulen schließen, um die Gesundheit der alten Eltern. Der verspannte Nacken, die schmerzende Schulter, die monatelanges Arbeiten in der Küche oder am Kinder-Schreibtisch mit sich bringen. Hab ich jetzt frei? Oder klapp ich den Laptop nochnal auf ein letztes Mal. Die Arbeitszeit zerfasert, ist nie zu Ende, schleicht sich rein ins Privatleben und zersetzt es langsam von innen.

Mein Gott, bin ich müde.

„Das neoliberale Arbeitslager in Zeiten der Pandemie heißt ‚Homeoffice‘“, lese ich im Buch „Palliativgesellschaft“ des Philosophen Byung-Chul Han. Han wird gerne als Stardenker bezeichnet, seit 2010 sein Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ erschienen ist. In Sachen homeoffice und Arbeitslager liegt er ziemlich daneben, finde nicht nur ich. Gerade erst konnte man Berichte lesen über Uiguren, die in Arbeitslagern zusammengepfercht und dazu gezwungen werden, Baumwolle zu ernten, damit wir billige T-Shirts shoppen können. Auch bei uns arbeiten Menschen unter unwürdigen Bedingungen, z.B. in der Fleischindustrie. Die Corona-Krise hat die Zustände hell ausgeleuchtet, als es nicht nur dort zu Massenausbrüchen des Virus kam.

Ich bin deshalb – bei allem Nerv -  jeden Tag dankbar dafür, dass ich zu Hause arbeiten kann und darf, dass ich nicht wie die Menschen in Kranken- und Pflegeeinrichtungen, an den Supermarktkassen, auf Ämtern, in Schulen oder im ÖPNV dem Virus ausgesetzt bin. Und dass ich überhaupt noch Arbeit habe – im Gegensatz zu den vielen Selbständigen, den Künstlerinnen und Musikerinnen, den Veranstalterinnen, Schauspielerinnen und Labelbetreiberinnen, den Restaurant-, Café-, Bar- und Clubbetreiberinnen. Wie müde müssen sie alle erst sein?

Leben in der Müdigkeitsgesellschaft

Was also tun mit all dieser Müdigkeit? Ich habe deshalb noch mal das Buch Müdigkeitsgesellschaft gelesen. Der Titel passt einfach so gut, auch wenn das kleine Büchlein schon 10 Jahre alt ist. Byung Chul Han erklärt die These seines Buchs:   

Wir leben heute nicht mehr in einer Disziplinargesellschaft, die vom Verbot oder von Befehlen beherrscht ist, sondern in einer Leistungsgesellschaft, die angeblich frei ist, die vom Können, yes we can, bestimmt ist, aber dieses Können erzeugt nur am Anfang ein Gefühl von Freiheit, bald erzeugt es mehr Zwänge als „du sollst“, man wähnt sich in Freiheit, aber in Wirklichkeit beutet man sich freiwillig und leidenschaftlich aus, bis man zusammenbricht.“

Früher mussten wir. Wurden von Normen, Rollen, Klassenzugehörigkeiten, Verboten gelenkt. Heute können wir. Gehören nur uns selbst, können alles sein, alles erreichen, alles werden, ganz besonders wir selbst. Doch der gesellschaftliche Imperativ, wir selbst werden zu müssen, hat eine Kehrseite: Sie führt zu Depression und Erschöpfung, zum erschöpften Selbst. Han schreibt: „Sie sind keine Infektionen, sondern Infarkte, die nicht durch die Negativität des immunologischen Anderen, sondern durch ein Übermaß an Positivität bedingt sind.“

Ausbrennen unter dem Dogma der Selbstoptimierung

Früher kämpfte das Immunsystem gegen die Krankheit von außen, so wie es im Kalten Krieg auch noch ein klares Freund-Feind-Schema gab, heute leiden die Menschen an "inneren" Burn-Outs und Depressionen. Auch in seinem jüngsten Buch „Palliativgesellschaft“ baut Han diese These weiter aus. In unserer Gesellschaft werde jeder Schmerz vermieden, stattdessen lebten wir in einer „Gefälligkeitskultur“ der Likes und Smileys und das Dogma des „sei positiv“ habe uns zu Sklaven einer sich steigernden Selbstoptimierung gemacht.

Und jetzt, was machen wir mit unserer unendlichen Müdigkeit, mit unseren durch die Leistungsgesellschaft bedingten Infarkten der Seele? 2010 schrieb Han noch, wir hätten das virale Zeitalter dank immunologischer Technik bereits hinter uns gelassen. Nun drängt es gerade mit Macht zurück, Biologen warnen, Corona könnte erst der Anfang gewesen sein. Im World Wide Web war „viral gehen“ schon in den letzten Jahren das Ziel fast aller. 2020 trifft der Infarkt auf die Infektion. Zum erschöpften Selbst kommt das von Corona erschöpfte Ich.  

Müdigkeit kann auch befreiend sein

Hans Buch nimmt zum Schluss eine interessante Wendung, auch wenn ich die Herleitung nicht genau verstehe. Laut Han gibt es nämlich nicht nur die Erschöpfungsmüdigkeit, die aus einem Zuviel Yes we can entsteht und die vereinzelnd wirkt, weil die Selbstoptimierung den Blick nur aufs eigene Ich richtet. Sondern es gibt auch noch eine andere Form der Müdigkeit, die Byung Chul Han bei Peter Handkes „Versuch über die Müdigkeit“ aus dem Jahr 1989 gefunden hat. Eine Müdigkeit, die die Klammer der Identität lockert, die Dinge an ihren Rändern flimmern lässt und ein Da-Zwischen eröffnet. Dieses Zwischen ist ein Raum der Freundlichkeit, wo sich das Ich für die Welt öffnet, die starre Abgrenzung gegenüber anderen wird aufgehoben. So heißt es: „Diese Müdigkeit macht Gemeinschaft denkbar, die weder Zugehörigkeit noch Verwandtschaft bedarf. Menschen und Dinge zeigen sich verbunden durch ein freundliches Und.“

Hört sich da nicht wie eine Verheißung an? Gerade in Zeiten, die durch Spaltung, Polarisierung und dem Missbrauch der eigenen Freiheit geprägt sind? Denn diese Müdigkeit macht uns nicht unfähig, etwas zu tun, sondern sie befreit uns von jedem „um zu“, von jedem Müssen und Sollen und in diesem Sinne ist die Müdigkeitsgesellschaft bei Byung-Chul Han eine Vision für die kommende Gesellschaft, in der es statt Ichbezogenheit wieder mehr Solidarität gibt.

Könnten wir nicht den Lockdown in diesem Sinne nutzen? Um uns selbst vom permanenten „Yes we can“ zu befreien und das verordnete „don’t – MACH ES NICHT“ freudig anzunehmen? Der nervende, uns von unseren Freunden und Verwandten isolierende Lockdown als eine Zwischenzeit, die Freundlichkeit ermöglicht, die uns mit anderen verbindet? Vielleicht ist das zu hoch gegriffen, zu kitschig, zu pathetisch – und vielleicht liegt es an Weihnachten im Lockdown, dass mich das so anspricht, dass meine Sehnsucht nach Gemeinschaft statt Individualismus plötzlich so stark wird. Ein Zitat jedenfalls aus die Müdigkeitsgesellschaft hat mich sehr tröstlich gestimmt und mich Frieden mit meiner Müdigkeit schließen lassen:

„Die Müdigkeit war mein Freund, ich war wieder in der Welt.“


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