Bayern 2 - Zeit für Bayern


9

Atomforschungsreaktor Das Garchinger "Atom-Ei"

Wenn vom Garchinger Ei die Rede ist, geht es nicht um ein echtes Ei, sondern um den ersten deutschen Atomforschungsreaktor. Das "Atom-Ei" wurde vor über 60 Jahren in Betrieb genommen. Inzwischen ist es vom Netz, die Schale steht aber immer noch – und ziert bis heute das Stadtwappen.

Von: Birgit Grundner

Stand: 26.03.2018 | Archiv

 Die futuristische Auߟenansicht des Atomreaktor Garching bei München.  | Bild: SZ-Photo/ Kurt Schraudenbach

Früher soll es Leute gegeben haben, die dachten, dass das Atom-Ei nur deshalb so heißt, weil es so groß ist. 30 Meter Durchmesser, 30 Meter hoch. Manche haben das als Kind für eine Art Wegweiser gehalten. Damals, als man das Atom-Ei von der Autobahn aus noch richtig sehen konnte, weil es noch keine so mächtigen Nachbarn hatte.

Was war die Henne, was das Ei?

Mittlerweile muss man das Riesen-Ei  fast schon ein bisschen suchen, im Schatten des noch größeren neuen Reaktors auf dem weitläufigen Garchinger Forschungs-Campus, der rundherum entstanden ist. Da wird auch Bürgermeister Dietmar Gruchmann schon mal  zum Philosophen.

"Wenn man überlegt, was war die Henne, was war das Ei, dann würde ich sagen: Natürlich war die Henne das Bauerndorf Garching, der Vorort von München, der dann dieses Ei gelegt hat. Relativ unbedarft, glaub ich, zum damaligen Zeitpunkt. Die waren sich gar nicht bewusst, was sich daraus entwickeln kann. Die Ereignisse haben dann quasi Garching überrollt. Ein Institut nach dem anderen, da sind wir schon stolz, auf unsere kleine Stadt neben der Stadt."

Dietmar Gruchmann, Erster Bürgermeister von Garching

In den 1950er Jahren war noch keine Rede von einer Stadt gewesen – weder in Garching noch bei Garching. Stadt – das war München. Garching – das war ein Dorf mit gerade einmal 3.000 Einwohnern. Viele Bauern waren arm, die kargen Böden schwer zu bewirtschaften. Die Reaktorbauer haben sich über den Boden im Münchner Norden freilich gefreut – eine tiefe feste Kiesschicht in einer noch dazu erdbebensicheren Gegend.  Da wollten sie das Atom-Ei legen. Die für ein Bauwerk äußerst ungewöhnliche Form hatte übrigens keine tieferen Gründe, sagt Dr. Jürgen Neuhaus, der stellvertretende wissenschaftliche Direktor am Nachfolgereaktor, der auch ein ganz normaler eckiger Bau ist. Für die Forschung hätte es jedenfalls auch früher schon kein Ei gebraucht.

"Es ist statisch relativ einfach, ein Ei zu bauen. Aber technisch für den Reaktorbetrieb hatte es keinen Bezug gehabt. Das hatte rein architektonische Gründe, dass man ein markantes Gebäude bauen wollte, das war schließlich die erste nukleare Anlage in Deutschland."

Dr. Jürgen Neuhaus, stellvertretender wissenschaftlicher Direktor am Nachfolgereaktor

1956 beginnen die Bauarbeiten fürs Atom-Ei

Vorherige Planentwürfe hatten eine Halle mit gewölbtem Dach vorgesehen – nach dem Vorbild großer Luftschiffhallen.  Der Ei-Entwurf hat sich aber durchgesetzt. Am 6. November 1956 haben die Bauarbeiten begonnen. 

Protest kam seinerzeit aus der Nachbargemeinde Ismaning. Dort hatten manche angeblich gehofft, dass Ismaning selbst als Standort ausgewählt wird. Andere waren erleichtert, dass es nicht geklappt hat und hätten den Reaktor lieber noch viel weiter weg als nur in Garching gesehen. Sie hatten Sorge, dass eine Atomanlage dem berühmten Ismaninger Kraut schaden könnte – das übrigens glücklicherweise bis heute als Delikatesse gilt.

Brauer haben Angst um ihr Bier

Ihr noch viel berühmteres Bier wollten die Münchner Brauer retten. Auch von ihnen kam in den 1950ern Widerstand gegen die geplante Reaktoranlage Sie fürchteten, dass das Grundwasser verseucht und das Hopfenwachstum in der nicht so weit entfernten Hallertau durch einen Reaktor "mittelfristig geschädigt" werden könnte.  Bei Einhaltung der Vorsichtsmaßnahmen sei das aber völlig ausgeschlossen, wurde den besorgten Brauern versichert  – das Grundwasser würde erstens nicht verseucht und zweitens die Hopfenanbaugebiete gar nicht erreichen.

Nicht überliefert ist, was aus dem FKK-Club "Osiris" geworden ist, der in den 1950er Jahren in den Isarauen bei Garching die Freikörperkultur pflegte. Die Mitglieder sollen jedenfalls nicht begeistert gewesen sein von der Aussicht auf neue Nachbarn. Andere haben das Treiben auf der Baustelle einfach nur mit Staunen verfolgt.

Damals regte sich fast niemand auf

Das Innenleben für das Ei, den Reaktor, hatte der Garchinger Professor Heinz Maier-Leibnitz im Auftrag der  bayerischen Staatsregierung in den Vereinigten Staaten gekauft. Jenseits des Münchner Nordens offenbar politisch kein Aufreger. "Die Zeit der Ostermarschierer und Kernkraft- Stürmer war noch nicht gekommen", sagte der Professor, als er sich später an diese Zeit zurückerinnerte.  Von möglicher Angst vor der neuen Technik war auch beim Richtfest keine Rede. Im Gegenteil. Der frühere Bürgermeister Helmut Karl hat mal aufgelistet, was da auf der Speisekarte stand.

"Uranstäbe mit Brezen – Weißwürste. Vorfluterbrühe mit Kerneinlage – Leberknödelsuppe. Neutronenschlegel – das war Kalbfleisch."

Helmut Karl, ehemaliger Bürgermeister von Garching

1957 fand die erste atomare Kettenreaktion in Deutschland statt

Auch in den Ansprachen wurde der neue Begriff "Atom-Ei" begeistert aufgenommen. Vom zweiten "Ei des Kolumbus" war sogar die Rede  Am 31. Oktober 1957 wurde der erste Atomreaktor der Bundesrepublik Deutschland dann in Betrieb genommen:  Genau um 19.45 Uhr wurde das erste Experiment gestartet. Die Neutronen ließen die Messinstrumente ausschlagen, im Schwimmbadreaktor: ein blaues Leuchten: "Die erste Kettenreaktion in Deutschland hatte stattgefunden". So hat Professor Maier-Leibnitz das denkwürdige Ereignis beschrieben, und auch der damalige bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner war begeistert. Sogar für ein Wahlplakat hat Hoegner später vor dem Atom-Ei posiert.

Betonbauten waren modern, Hochhäuser fortschrittlich

Ganz Deutschland war in Aufbruchsstimmung, der Fortschritt wurde begeistert gefeiert, auch im Bauerndorf Garching.  Es waren die Jahre scheinbar unbegrenzten Wirtschaftswachstums, Jahre, in denen Betonbauten als modern und Hochhäuser als fortschrittlich galten – und nicht zuletzt auch wegen der Nähe zur Landeshauptstadt München gefragt waren.

Forscher aus dem In- und Ausland in Garching

Im Atom-Ei wurde von Anfang an mithilfe von Neutronen Grundlagenforschung in Physik und Chemie betrieben. Zum Beispiel haben die Wissenschaftler dort Neutronenleiter erfunden. Oder die Rückstreu-Spektrometrie, die bei Materialuntersuchungen und -verbesserungen hilft. 

Wissenschaftler aus dem In-und Ausland kamen ins Atom-Ei. Der spätere Nobelpreisträger Dr. Rudolf Mößbauer hat dort promoviert. Die Arbeit im Reaktor lockte weitere Lehrstühle, wissenschaftliche Einrichtungen und Unternehmen an.    Heute arbeiten und studieren jeden Tag mehr als 25.000 Menschen auf dem Forschungscampus. Garching wurde mittlerweile zur Stadt erhoben und darf sich auch Universitätsstadt nennen. Für sie wurde auch die Münchner U-Bahn erstmals über die Stadtgrenze hinaus verlängert. Letztlich alles wegen eines Eis, das seine Form eher zufällig bekommen hatte.

Das Ei wurde ausgeblasen

Das Atom-Ei selbst hat mittlerweile ausgedient. Zweimal war die Reaktorleistung noch angehoben worden. Trotzdem: Die Dichte der erzeugten Neutronen reichte den Wissenschaftlern in den 1980er Jahren nicht mehr aus. Sie fürchteten, im internationalen Vergleich bald nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. Planungen für eine neue Forschungs-Neutronenquelle wurden in Angriff genommen – mit einem 100 mal höheren Neutronenfluss. Als die Genehmigung für den FRM II vorlag, wurde das Atom-Ei nach 43 Jahren abgeschaltet. Am 28. Juli 2000 wurde "das Ei ausgeblasen", wie eine Zeitung damals titelte. Längst ist der neue Reaktor, der FRM II in Betrieb. Zum Leidwesen einer Bürgerinitiative, die sich nach dem Gau von Tschernobyl gegründet hatte und auch schon die Arbeit im Atom-Ei kritisch beobachtet hatte. Ingrid Wundrak ist von Anfang an dabei.

"Damals, muss man sagen, waren die Leute einfach blöd, als das Ei gebaut wurde. Das war der erste Atomreaktor in Deutschland und voller Begeisterung hat man gemeint, oh Wunder, welch tolle Technik da raus kommt. Was wir jetzt alle wissen: Die Technik war nicht so toll und das ist sehr gefährlich, auch im Normalbetrieb wird aus dem hohen Kamin radioaktives Tritium ausgestoßen, das wir alle einatmen. Also das ist nicht so harmlos, wie man es uns immer weismachen möchte."

Ingrid Wundrak

Ein Ei ohne Atom

Die Reaktorbetreiber von der TU München sehen das anders. Das frühere Atom-Ei ist mittlerweile ein Ei ohne Atom. Nur die denkmalgeschützte Hülle ist geblieben und soll einen neuen Zweck bekommen, erklärt der stellvertretende wissenschaftliche Direktor.

"Ziel ist es, das Atom-Ei in den jetzigen neuen Forschungsreaktor als Anlage zu integrieren und dann weiterhin zu nutzen in der Zukunft."

Dr. Jürgen Neuhaus, stellvertretender wissenschaftlicher Direktor am Nachfolgereaktor

Auch im Wappen der Stadt Garching ist das Atom-Ei weiterhin zu sehen. Mehr als 60 Jahre nach der Inbetriebnahme von Deutschlands erstem Atomreaktor.


9