Bayern 2 - radioWissen


22

Die Welt des osteuropäischen Judentums

Von: Volker Eklkofer / Sendung: Yvonne Maier

Stand: 08.08.2013 | Archiv

GeschichteMS, RS, Gy

In den Schtetln Osteuropas leben jüdische Bevölkerungsmehrheiten nach ihrer Religion, Tradition und Kultur. Man bildet Wertegemeinschaften, hält aber Kontakt zur christlichen Umgebung. Deutsche Vernichtungswut bringt das Ende des Schtetls.

Juden finden Zuflucht im Osten

Während der großen Pest, in den Jahren 1348 bis 1350, macht man in einer Atmosphäre von Panik und Aberglauben vielerorts im Heiligen Römischen Reich die Juden als "Brunnenvergifter" für die tödliche Infektionskrankheit verantwortlich. Es kommt zu verheerenden Pogromen, zahlreiche jüdische Gemeinden werden ausgelöscht. Überlebende verlassen die Städte, viele von ihnen zieht es nach Osteuropa. Polnische Herrscher sehen die Zuwanderung mit Wohlwollen. Sie können ausgebildete Handwerker und Kaufleute gut gebrauchen, um ihr dünn besiedeltes, rückständiges Agrarland weiterzuentwickeln.

So entsteht im Königreich Polen-Litauen - beide Länder sind seit 1386 in einer Personalunion verbunden - eine jüdische Mittelschicht, die ihren Platz zwischen Bauernstand und Adel findet. Viele jüdische Orte werden von ihren Bewohnern selbst verwaltet. Für die Regelung des öffentlichen Lebens bis hin zu Steuererhebung und Gerichtsbarkeit ist ein Rat, der Kahal, zuständig. Ihm gehören Rabbiner und Gemeindeälteste an. Auch im Bereich Kulturwesen und Unterricht sind die Gemeinden weitgehend autonom. Die Stadt Vilnius (Wilna) entwickelt sich zum "litauischen Jerusalem" mit Rabbinerschulen und der größten jüdischen Bibliothek Osteuropas.

Das jüdische Siedlungsgebiet wird bedroht

Im 16./17. Jahrhundert leben in Polen-Litauen etwa 80 Prozent aller europäischen Juden. Viele Juden betreiben Handwerksbetriebe, Mühlen, Gaststätten und Brauereien. Sie sind Händler, Steuereintreiber oder arbeiten als Verwalter bei wohlhabenden Grundbesitzern. Der polnische Adel erweist sich als tolerant und fördert die Ansiedlung. Die in Leibeigenschaft darbende Landbevölkerung begegnet den Juden nicht selten mit Neid und Misstrauen. Das polnisch-litauische Herrschaftsgebiet reicht zu dieser Zeit weit in die Ukraine hinein und die hier lebende russisch-orthodoxe Bevölkerung, überwiegend Bauern und Kosaken, betrachtet die Juden, die ins Land drängen, als Erfüllungsgehilfen der katholischen Besatzer.

Mitte des 17. Jahrhunderts kommt es zu einem Kosakenaufstand, der sich rasch zum Flächenbrand ausweitet. Die Rebellen betrachten die Juden als Verbündete der Polen und begehen grausame Massaker. Nach Schätzungen werden binnen zehn Jahren mehr als 100.000 Juden getötet. Nach dem Ende der Kämpfe in den 1660er Jahren stehen die jüdischen Gemeinden vor allem in der Ukraine vor dem Aus. Erneut setzt eine Auswanderungswelle - diesmal in westlicher Richtung - ein.

Die Juden weichen ins Schtetl aus

In manchen Orten entscheiden sich Juden trotz Armut und Repressalien zu bleiben. Sie ziehen sich, geduldet von der Obrigkeit, in eine von Frömmigkeit geprägte Nische, ins Schtetl zurück. Das Wort ist jiddischen Ursprungs und leitet sich von Schtot (= Stadt) ab. Kleine Häuschen, Werkstätten, eine Mikwe (Tauchbad), eine Synagoge und ein jüdischer Friedhof prägen das Bild vieler Siedlungen.

Juden stellen die Bevölkerungsmehrheit in diesen Orten, aber auch Christen wohnen hier. Sozioökonomische Beziehungen sind an der Tagesordnung. Eine wichtige Rolle spielt der Markt, auf dem Juden als Händler agieren und Produkte der Bauern für den Weitervertrieb in den großen Städten des Landes aufkaufen. Viele Kontakte laufen auch über den Tavernenbetrieb, denn Juden dürfen von polnischen Adeligen das Recht zum Alkoholausschank erwerben. Kulturell fehlt es an Berührungspunkten zwischen Juden und Christen, Mischehen sind höchst selten.

In zahlreichen Schtetln gibt es - die Ausprägung hängt von Raum, Zeit und äußerem Druck ab - strikte jüdische Hierarchien. Gemeindeautoritäten haben das Sagen, sie bestimmen über das Bildungs- und Wohltätigkeitssystem und arrangieren Heiraten. Vermeintliche Glaubensabtrünnige können schnell unter Druck geraten. Neben der traditionellen rabbinischen Orthodoxie entfaltet sich im 18. Jahrhundert die religiöse Bewegung des Chassidismus.

Jiddisch - die Sprache des Schtetl

Die jüdischen Bewohner des Schtelts sprechen überwiegend Jiddisch, das auf hebräisch-aramäischem Sprachgut basiert, im 11./12. Jahrhundert im Rheinland mit mitteldeutschen Mundarteinsprengseln erweitert und im Osten durch slawische Elemente ergänzt wurde. Bis ins 19. Jahrhundert entfaltet sich auch die jiddische Literatur. Die Musik des Schtetls spielt die Klezmer-Kapelle.

Der Niedergang des Schtetls

Schtetl sind bis zum Zweiten Weltkrieg in ganz Osteuropa zu finden - heute wären es die Länder Polen, Litauen, Weißrussland, Ukraine, Slowakei, Rumänien und Moldawien. Hinzu kämen Gegenden in Lettland und West-Russland. Zumindest bis zur Dritten Polnischen Teilung bleibt die Selbstverwaltung vielerorts bewahrt. 1795 fallen große Teile Polens unter die Gewalt des russischen Zarenreichs, dessen Verwaltung nicht selten in die Belange der Schtetl eingreift und dessen Privilegien beschneidet. Als auch Pogrome wieder zunehmen, reagieren viele Schtetl-Bewohner im 19. Jahrhundert mit Abwanderung; bevorzugte Ziele sind Berlin, Paris und New York.

Die Oktoberrevolution 1917 bringt für die Schtetl weitere Einschränkungen: Synagogen, Schulen und Handwerksbetriebe werden von den Sowjets geschlossen, auch die jüdische Religion und Kultur drängen die Kommunisten zurück. Schließlich fällt die besondere Welt des Schtetls während des Zweiten Weltkriegs der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zum Opfer. Die Suche vieler Nachkommen osteuropäischer Juden nach ihrer Identität hält die Erinnerung ans Schtetl bis heute aufrecht und lässt eine gewisse Schtetl-Nostalgie aufkommen.


22