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Die Schlange Als Manifestation göttlicher Kräfte

Stand: 06.09.2012 | Archiv

Schlange häutet sich | Bild: picture-alliance/dpa

Mythen fallen nicht vom Himmel herab. Sie werden von Menschen für Menschen erzählt, ausgefaltet, verändert und weitergesponnen. Darum sind Mythen notgedrungen ein Übertragungsakt, der menschliche Beobachtungen, Schlussfolgerungen, Ängste, Hoffnungen, Annahmen und Verhaltensweisen auf das mythische System projiziert.

Dieses Übertragungsprinzip gilt auch für die Schlange. Was die Menschen von ihr wussten und befürchteten, was sie als ihre natürlichen Merkmale und Eigenschaft wahrnahmen, verdichtete sich zum mythischen Wesen der Schlange. Eine zentrale Rolle spielen dabei die bereits genannten biologischen Fakten wie das Häuten, das Beuteverhalten, das Töten durch Gift oder der Lebensraum. Viele dieser biologischen Merkmale werden im frühen Mythos als wesentliche Eigenschaften oder Manifestationen des Göttlichen und der Schöpfungsordnung interpretiert. Ein Beispiel ist das Fehlen äußerlicher Geschlechtsmerkmale: Schlangen galten als zweigeschlechtlich und repräsentierten so das Prinzip aller aus sich selbst heraus geschaffenen Götter und der Schöpfungskraft der Erde. Da die Schlange somit als Träger göttlicher Teilkräfte und Repräsentation ewiger Wahrheiten erscheint, ist sie selbst ein Teil der göttlichen Wirklichkeit und gottgleich oder vollends göttlich.

Der Lebensraum als Mythen bildender Faktor

Ein natürlicher Faktor, der das mythische Schlangenbild entscheidend ausformt, ist der Lebensraum. Ein Großteil aller Schlangen lebt auf dem Boden, in der Erde, in Löchern und Spalten. Das macht sie für das mythische Denken zu Wesen der chthonischen Sphäre. Chthonisch heißen Kräfte, Aspekte und später auch Götter, die der Erde und der Unterwelt entstammen und mit beiden Bereichen eng verbunden sind. Wie die Schöpfung insgesamt, hat auch die chthonische Sphäre ein doppeltes Gesicht: Zum einen bringt der Boden vielgestaltiges Leben, Pflanzen, Kräuter und Nahrung hervor. Zum anderen ist das Innere der Erde ein Ort der Auflösung und der rätselhaften Metamorphose: Das Leben kehrt nach dem Tod in die Erde zurück, um sich dort zu verwandeln, zu vergehen oder neu zu erstehen.

Die Sphäre der Unterwelt

Im mythischen Kosmos haben Wesen, die im Boden und in der Erde leben, Zugang zu den Geheimnissen von Leben und Tod. Das trifft in besonderem Maß auf die Schlange zu: Da sie im Inneren der Erde haust, immer wieder in die Tiefe abtaucht und aus ihr aufsteigt, steht sie in engstem Kontakt mit dem Reich der Toten und den Kräften der Unterwelt. Als Wanderer zwischen den Sphären schlüpft sie daher häufig in die Rolle des Boten, Vermittlers oder Geheimniskünders.

Ein Schlangengott als Gegenspieler der Sonne

Im altägyptischen Unterwelt-Mythos schlägt sich die erdhafte Natur der Schlange in zwei sehr gegensätzlichen Erscheinungen nieder. Die zerstörenden, vernichtenden, dunklen und auflösenden Kräfte der Erde manifestieren sich im schlangenförmigen Unterweltdämon Apophis. In den Totenbüchern als riesenhafte Schlange dargestellt, ist Apophis der große, finstere Gegenspieler des Sonnengottes Re, der auf seiner Barke allnächtlich die Unterwelt durchfährt. Bevor er am Morgen wieder am Himmel aufsteigt und die Welt erleuchtet, muss Re jede Nacht den Schlangengott Apophis besiegen, der ihm den Weg verstellt und seine Wiederauferstehung verhindern will. Im allnächtlichen Kampf mit Apophis ist Re zum Glück nicht auf sich selbst gestellt: Geflügelte Schlangenwesen und vor allem die mächtige Uräus-Kobra helfen ihm dabei, den Feind niederzuringen. Die Totenbücher berichten darüber hinaus, dass Schlangenwesen die Zwölf Tore der Unterwelt bewachen, in einigen Versionen verwandeln sich sogar die Toten selbst in Schlangen.

Das Erdinnere als mantische Sphäre

Durch ihren engen Kontakt mit der Erde, der Erdmutter und der Unterwelt ist die mythische Schlange auch ein Träger geheimen Wissens, der über die Gabe des Wahrsagens (Mantik) und große Weisheit verfügt. Schlangenwesen, die den Menschen auf Verborgenes hinweisen oder die Zukunft vorhersagen, sind in allen Kulturen bekannt. Ein später Nachhall der mantischen Gabe sind "gute" Schlangen, die in Märchen oder Legende den Ort versteckter Schätze anzeigen.


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