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Das Thema Reformbewegung

Stand: 05.03.2012 | Archiv

Bis ins 19. Jahrhundert ist Unterordnung der Frau europaweit tief verwurzelt und durch Brauchtum, Religion und Gesetz sanktioniert. In Deutschland markiert die Revolution von 1848 den Beginn der Frauenemanzipation. Weit weniger spektakulär formiert sich die Frauenbewegung in England. Während die Revolution, ausgehend von Frankreich, nahezu den gesamten Kontinent erfasst und Frauen wie Männer aus Bürgertum und Arbeiterschaft auf die Barrikaden treibt, gibt es in England keine Umsturzversuche.

Reformprozess im viktorianischen England

Dank behutsamer Reformen vollzieht sich auf der Insel eine geordnete Entwicklung in Richtung eines modernen demokratischen Staates. Königin Viktoria (1819-1901) besteigt im Jahr 1837 als konstitutionelle Monarchin den Thron, ihre Regentschaft dauert über 60 Jahre. Diese Zeit wird von vielen Briten bis heute als "gute alte Zeit" verklärt. Bei Beginn des "Viktorianischen Zeitalters" ist England bereits zur Industriemacht aufgestiegen, der wirtschaftliche Liberalismus (Manchestertum) hat landesweit Fuß gefasst. Trotz beträchtlicher sozialer Unterschiede und einem grassierenden Massenelend entscheiden sich die Arbeiter für einen friedlichen Wirtschaftskampf und organisieren sich in Gewerkschaften (Trade Unions). Im Gegenzug signalisieren die herrschenden Eliten Reformbereitschaft. Schon 1824 wird den Arbeitern das Koalitionsrecht gewährt, zudem erhalten sie das Recht zu streiken.

Das Wahlrecht wird ausgeweitet

Das Parlament, getrennt in Oberhaus (House of Lords) und Unterhaus (House of Commons) ist bereits im 14. Jahrhundert aus einer Ständevertretung heraus entstanden, im 17. Jahrhundert siegte es über den König. 1832 kommt es zur ersten Wahlrechtsreform. Ein Zensus wird eingeführt, die Zahl der Abgeordneten für die aufstrebenden Ballungszentren wird erhöht, deutlich mehr Männer dürfen nun ihre Stimme abgeben. 1867 folgt die nächste Wahlrechtsreform. Nun dürfen auch städtische Wohnungsinhaber zur Wahl gehen. Ausgeschlossen bleiben Bedienstete, Soldaten sowie Söhne, die nicht zuhause leben - und Frauen. 1884 wird ein drittes Reformgesetz beschlossen, das auch die Wohnungsinhaber in den Landgemeinden zur Wahl zulässt. Nun verfügen schon zwei Drittel aller Männer in England über das Wahlrecht. Kriminellen, Geisteskranken und Frauen bleibt der Urnengang weiterhin verwehrt.

Frauen begehren auf

Dass sich der Reformwille der Regierungen auf männliche Bürger beschränkt, empfinden viele Frauen aus dem Bürgertum als Ungerechtigkeit. Sie leben in einem Land mit langer parlamentarischer Tradition und verstehen, wie wichtig das Recht zu wählen (aktives Wahlrecht) und das Recht, gewählt zu werden (passives Wahlrecht) sind. Nur im Parlament vertretene Gruppierungen können ihre Interessen wirksam vertreten. So formiert sich eine weitgehend monothematische Frauenbewegung. Die Wahlrechtsfrage steht jahrzehntelang im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. "In Deutschland hat die Frauenbewegung andere Themen", sagt die Politologin Michaela Karl im Gespräch mit radioWissen, "in England überstrahlt die Wahlrechtsfrage alles". Karl hat der Frauenbewegung eine umfassende Darstellung gewidmet.

In den 1840er Jahren verteilt die Erzieherin und Schriftstellerin Anne Knight (1792-1860) Flugblätter und wirbt für das Frauenstimmrecht. 1851 wird die Sheffield Female Political Association gegründet. John Stuart Mill (1806-73), einer der großen klassischen Ökonomen, bricht 1867 als Unterhausabgeordneter eine Lanze für die Frauen: Der Wirtschaftsliberale bringt - vergebens - ein Amendment zum Second Reform Bill ein, das Frauen das Stimmrecht zuerkennen soll.


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