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Die Schattenseite des Spiegelbooms

Vergiftet am Arbeitsplatz um 1770 Die Schattenseite des Spiegelbooms

Stand: 02.03.2020

Prügelbock | Bild: BR

Betriebe wie die Kurmainzische Spiegelglasmanufaktur binden die Arbeiter und ihre Familien eng an sich. Frauen sind für das Waschen und Verpacken der Ware zuständig. Kinder, Buben wie Mädchen, werden ab dem 8. Lebensjahr durch Hilfstätigkeiten mit der Arbeitswelt vertraut gemacht -  die Manufaktur sichert sich damit den Fachkräftenachschub. Für die Belegschaft gelten strenge Regeln, bei Verstößen droht Familienhaftung. Im späten 18. Jahrhundert werden die Arbeitskräfte sogar vereidigt. Ziel ist es, sie an den Betrieb zu binden und eine Abwanderung - und damit den Knowhow-Transfer - zu verhindern. Für die Bestrafung gefasster "Deserteure" ist der lokale Regierungsvertreter, in der Regel ein Oberamtmann, zuständig. Er lässt die Delinquenten vor versammelter Belegschaft verprügeln.

Zwar kommen die Arbeiter in den Genuss von Privilegien - sie sind unter anderem vom Militärdienst befreit und dürfen Bier brauen - doch die körperlichen Belastungen sind beträchtlich. Um Körper und Nerven zu stärken, konsumieren die Arbeiter viel Bier, Schnaps und Wein. Beim Schleifen und Polieren von Gussglastafeln gelangen Staub und feiner Sand in die Atemwege. So verwundert es nicht, dass sich so genannte "Leibschäden" schon früh bemerkbar machen.

Krank macht aber vor allem der Umgang mit dem hochgiftigen Metall Quecksilber. Beim Beschichten von Glas wird Quecksilber auf der Platte verteilt und mit einem Baumwolltuch verrieben. Überschüssiges Quecksilber fließt über eine Rinne im Arbeitstisch ab. Was keiner weiß: Bei Raumtemperatur verdunstet flüssiges Quecksilber langsam und bildet giftige Dämpfe. So findet die Beschichtung in geschlossenen "Belegstuben" statt - dabei wäre eine gute Belüftung dringend nötig gewesen!

Quecksilber macht krank

Die Folgen sind dramatisch: Viele Arbeiter erkranken an Quecksilbervergiftung; Leber, Nieren und das Zentralnervensystem erleiden irreparable Schäden. Die Männer beklagen Haar- und Zahnausfall, Schwindel, Zitteranfälle, Husten und Magenbeschwerden. Ihre Lebenserwartung ist niedrig, kaum ein Spiegelbeleger wird älter als 40 Jahre.

Mit häufigen Pausen will die Betriebsleitung ihre Arbeiter schonen und lässt sie von der "Belegstube" regelmäßig an andere Arbeitsplätze wechseln, doch am Krankenstand ändert sich nur wenig. Mitte des 18. Jahrhunderts wird in Lohr eine Hilfskasse eingerichtet, die bei Arbeitsunfähigkeit eine geringe Unterstützung zahlt.

Selbsthilfe der Arbeiter

Erkrankte entscheiden sich für den Aderlass oder greifen zu Medikamenten wie Steinbrechextrakten, von denen sie sich eine Linderung der Beschwerden erhoffen. Beliebt sind vor allem Mittel, die Durchfall und Schwitzen hervorrufen. Quecksilber soll auf diese Weise aus dem Körper geschwemmt werden.

Doch die Arzneien sind teuer - was tun? Spiegel stehlen ist kaum möglich, weil sie zu groß sind und die Meister und Verwalter ein Auge auf die Bestände haben. Deshalb unterschlagen Kranke Quecksilber, schmuggeln es in kleinen Flaschen aus der Manufaktur und verkaufen es an reisende Händler.

Ein kranker Quecksilberdieb, dessen Ermittlungsakten vorliegen, ist der in der Sendung porträtierte Spiegelbeleger Philipp Anton Herrmann. 1776 wird er ertappt, doch seine Strafe fällt "milde" aus - wohl weil die Obrigkeit um die Quecksilberproblematik weiß, aber keinen Ausweg aus dem Dilemma zu bieten hat. Hermann wird auf dem Prügelbock ausgepeitscht und für drei Sonntage im Lohrer Bürgerturm eingesperrt.

Das Beschichten von Glasplatten mit Quecksilber bleibt - mangels Alternative - bis weit ins 19. Jahrhundert das Standardverfahren in der Spiegelproduktion. In den späten 1850er-Jahren entwickelt der Chemiker Justus von Liebig (1803-1873) eine ungefährliche Silberlösung. 1886 werden Quecksilberspiegel wegen ihrer Giftigkeit in Deutschland verboten.

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Gebäude des Lohrer Manufakturbetriebes. Zeichnung um 1800 | Bild: BR zum Thema Vergiftet am Arbeitsplatz um 1770 Philipp Anton Herrmann

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