Bayern 2 - radioWissen


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Der Kältekönig

Von: Simon Demmelhuber / Sendung: Carola Zinner

Stand: 14.04.2016 | Archiv

GeschichteMS, RS, Gy

Heute schon an Carl Linde gedacht? Nein? Schade! Er hätte es echt verdient: Der Eisheilige hat uns den Kühlschrank und die Gefriertruhe geschenkt. Genauer gesagt das Prinzip, nachdem diese Geräte seit 1877 bestens funktionieren.

"Mit Eis stopf' deine Keller voll, wenn dir das Bier gelingen soll!" So mahnt der Bayerische Brauer- und Mälzerkalender im Januar 1880. Und schiebt im Februar gleich den nächsten Denkzettel nach: "Wenn auch der Taumond bringt noch Eis, so fülle nach mit größtem Fleiß!" Gut gemeint und flott gereimt. Aber vollkommen überflüssig. Ans Eiseinlagern musste die bayerischen Biersieder keiner erinnern. Ohne Eis ging nämlich gar nichts. Zumindest nicht beim Brauen untergäriger Lagerbiere. Die trank man in Bayern schon seit jeher gern, und auch im neuen Kaiserreich immer lieber.

Kühl und dunkel muss es sein

Untergärige Biere sind im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der große Renner. Sie heißen nach ihrer Hefe, die im Gärbottich nicht oben schwimmt, sondern auf den Boden absinkt. Das Bier nach "Bayerischer Brauart" schmeckt vollmundig, würzig und bleibt länger frisch als obergärige Varianten. Aber da gibt es eine kleine Besonderheit, und die macht den Brauern das Leben schwer: Untergärige Biere brauchen es kühl. Damit sie gelingen, muss die die Würze nach dem Sieden rasch auf vier bis höchstens acht Grad abgekühlt werden. Kalt mag es auch die Hefe im Gärbottich. Zwischen vier bis maximal acht Grad sind erlaubt, mehr nicht. Ein striktes Kältegebot gilt auch beim Reifen und Lagern. Steigt die Keller- oder Fasstemperatur über zehn Grad, verdirbt der Gerstensaft.

Ein frostiger Rohstoff

Die nötige Kälte liefert natürliches Eis. Es wird in der kalten Jahreszeit blockweise aus Seen oder Teichen gesägt. Wo offene Gewässer fehlen, hilft ein Trick: Holzgestelle werden so lange mit Wasser berieselt, bis sich riesige, erntereife Eiszapfen bilden. Von diesem frostigen Rohstoff, der in weitläufigen Kellern gestapelt wird, benötigen Bayerns Brauer gigantische Mengen. Etwa 56.000 Tonnen jährlich verbrauchen alleine die 17 Münchner Brauereien in den 1870er Jahren. Großabnehmer wie die Spatenbrauerei benötigen an warmen Tagen zwischen 28 und 39 Tonnen und kaufen so in Spitzenjahren insgesamt bis zu 24.000 Tonnen Eis an.

Die Kosten für die Kühlung mit Natureis sind beträchtlich und weisen erhebliche Schwankungen auf. In Jahren mit normalen, das heißt kalten Wintern, müssen die Münchner Brauer für den Zentner rund 15 Kreuzer hinlegen. Der Wert des täglich in der Spatenbrauerei verbrauchten Eises entspricht dem Preis für 225 Kilo Ochsenfleisch oder 1500 Liter Bier. In Zeiten der Rohstoffverknappung, wenn das Eis bei milder Witterung nicht wächst, langen die Lieferanten kräftiger hin und verlangen bis zu 48 Kreuzer für den Zentner.

Eiskalte Geschäfte

Doch es gibt keine Alternative. Erst die Eiskühlung ermöglicht eine sichere Lagerung. Vor allem aber gestattet nur sie die ganzjährige Herstellung untergäriger Biere. Vor der "Eiszeit", die um etwa 1850 beginnt, herrschte ein strenges Sommerbrauverbot. Wegen der Gefahr des Sauerwerdens, Umkippens und Gerstevergeudens durfte untergäriges Bier nur von Michaeli (29. September) bis Georgi (23. April) hergestellt werden. Mit der Ausweitung der Brauzeiten können die Brauereien zwar ihren Ausstoß steigern, aber sie geraten auch in neue Abhängigkeiten. Zum einen brauchen sie riesige Lagerflächen für das Eis, darüber hinaus sind sie mehr denn je von den Launen der Natur abhängig. In kalten Wintern ist die Eisbeschaffung problemlos, weil die nähere Umgebung oder eigene Eisflächen den Bedarf decken. Milde Winter aber bringen die Brauer mächtig ins Schwitzen. Wird das Eis knapp und muss aus den Bergen oder von Gletscher herab geschafft werden muss, explodieren die Preise. Die Lieferanten wissen genau, dass die Brauer fast jede Forderung akzeptieren, um ihre Keller zu füllen und das Jahresgeschäft zu retten.

Alternativen gesucht

Die Natureiskühlung ist nicht nur teuer, arbeitsintensiv und witterungsabhängig. Sie wirft auch hygienische Probleme auf, weil die Brauer mit Eis gefüllte, schwimmende Gefäße in die Gärbottiche hängen, um den Sud zu kühlen. Dabei kommt es wieder vor, dass die Behälter undicht werden und das keimbelastete Kältemittel ganze Partien ungenießbar macht. Bereits in den 1860er Jahren beginnen fortschrittliche Brauer daher mit neuartigen Maschinen zu experimentieren, die künstliche Kälte erzeugen. Doch die Technik steckt noch in den Kinderschuhen. Keines der konkurrierenden Systeme ist ausgereift, keines wirklich zuverlässig und wirtschaftlich, weil die Betriebskosten in keinem Verhältnis zur Kälteausbeute stehen.

Lindes angewandte Wissenschaft

Der mangelnde Wirkungsgrad ist ein Problem, mit dem sich Carl Linde auseinandersetzt, ein junger Professor für Maschinenbau an der 1866 gegründeten Königlichen Polytechnischen Schule in München. Der Pfarrerssohn aus dem oberfränkischen Berndorf, den Turbinen und Kraftmaschinen schon früh weitaus mehr begeistern als die vom Vater vorbestimmte Theologie, ist ein Gelehrter neuen Typs: Fasziniert vom allgemeinen Aufschwung der Technik, glaubt er an eine Wissenschaft, die sich nicht zwischen Buchdeckel und hinter akademische Mauern zurückzieht, sondern daran geht, die Welt aktiv zu verändern. Linde favorisiert eine Forschung, die konkrete Probleme aufgreift, theoretisch untersucht und praktisch löst. Daher beschäftigt er sich als Maschinenbauer mit dem Problem künstlicher Kälte, das in vielen gewerblichen und industriellen Bereichen offenkundig immer drängender wird. Er unterzieht die verschiedenen Ansätze einer systematischen Prüfung und untersucht dabei nicht nur theoretische und technische Aspekte, sondern erstmals auch die wirtschaftliche Seite der Erzeugung künstlicher Kälte. Lindes Fazit, das er 1871 im "Bayerischen Industrie- und Gewerbeblatt" veröffentlicht, fällt eindeutig aus: Er ist überzeugt, durch technische Verbesserungen den Wirkungsgrad der Kältemaschine so steigern zu können, dass ein zuverlässiger und vor allem wirtschaftlicher Betrieb möglich ist.

Die ökonomische Karte sticht

Damit hat er zumindest August Deiglmayer, den Besitzer der österreichischen Großbrauerei Dreher und Gabriel Sedlmayer sofort am Haken. Deiglmayer und sein Münchner Kollege Sedlmayer, dem die Spaten- und die Franziskanerbrauerei gehört, beauftragen Linde mit der Konstruktion einer wirtschaftlichen Kältemaschine. Die Vereinbarung sieht vor, dass Linde zunächst eine Versuchsanlage in der Spatenbrauerei aufgestellt und testet. Bewährt sich der Prototyp, soll er anschließend eine große Kühlanlage für die Drehersche Brauerei in Triest liefern.

Vom Prototypen zum Produkt

Linde nimmt die Herausforderung an. Er entwickelt eine verbesserte Kaltdampfmaschine, in der ein gasförmiges Kühlmittel durch Kompression zuerst verflüssigt und anschließend durch Entspannung wieder verdampft wird. Im Januar 1873 ist die Konstruktion soweit gediehen, dass die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg mit dem Bau beginnen kann. Da der im Januar 1874 getestete Prototyp technische Mängel aufweist, verbessert Linde die Abdichtung und die Leistung des Kompressors. Außerdem ersetzt er den als Kühlmittel vorgesehenen Methyläther durch Ammoniak. Dieser Feinschliff bringt 1876 den Durchbruch: Im September liefert die Maschinenfabrik Lindes Erstling an die Drehersche Brauer in Triest aus, im kommenden Frühjahr beginnt der Regelbetrieb.

Kernkompetenz Lean Management

Nachdem Linde schon im März 1876 einen auf zehn Jahre befristeten bayerischen Patentschutz erworben hat, folgt ein Jahr später das reichsweite Patent auf die "Linde'sche Eismaschine". Damit sind alle Voraussetzungen für eine industrielle Verwertung geschaffen. Linde gibt seinen Münchner Lehrstuhl auf und gründet 1879 gemeinsam mit weiteren Geldgebern in Wiesbaden die "Gesellschaft für Linde's Eismaschinen". Der junge Unternehmer geht seine Sache ebenso klug wie weitsichtig und ausdauernd an. Er entwickelt Unternehmertugenden und Geschäftspraktiken, die man heute wohl als "Lean Management" bezeichnen würde. Seine Gesellschaft ist in erster Linie ein Ingenieursbüro, das Aufträge einwirbt, Konstruktionspläne entwickelt, die Kunden betreut, aber nicht selbst produziert. Die Herstellung übernehmen spezialisierte Geschäftspartner in Lizenz. Für die Aufstellung, Inbetriebnahme und Wartung sind allerdings ausschließlich Lindemitarbeiter zuständig, die so den exklusiven Kundenkontakt garantieren. Durch die schlanke Organisation, den Verzicht auf eigene Produktionsstätten und die Konzentration auf die konstruktive Kernkompetenz wächst das Unternehmen rasant. Linde arbeitet in engster Abstimmung mit dem Markt unermüdlich an der Perfektionierung seiner Kältemaschinen, treibt die Entwicklung voran und kann, gemessen am Preis-Leistungs-Verhältnis, bald die beste Kaltdampfmaschine der Welt anbieten.

Die Brauer beißen an

Doch trotz erster Verkaufserfolge läuft das Geschäft zunächst nicht richtig an. Den meisten Unternehmern und auch den Brauern, sitzt die Gründerkrise von 1873 noch mächtig in den Knochen. In der anhaltenden wirtschaftlichen Depression sind sowohl der Investitionswille wie auch das Investitionskapital eher dünn gesät. Als jedoch im Winter 1883/1884 mit Durchschnittstemperaturen von 5 Grad plus die Eispreise durch die Decke gehen, bestätigt sich, was Linde bereits zehn Jahre vorher in einem Zeitschriftenartikel vorhergesagt hatte: "Während also im Allgemeinen in unseren Climaten der Winter (..) eine genügende Menge Eis zur Verfügung stellt, so gibt es Jahre, in welchen der Consument im Stich gelassen wird und nur unter großen Schwierigkeiten und Geldopfern sich zu verproviantieren vermag. Diese Erfahrungen sind es hauptsächlich, welche die Aufmerksamkeit der intelligenten Bierbrauer auf Kälteerzeugungsmaschinen gerichtet hat".

Siegeszug der Kältemaschinen

Genau so kommt es. Die intelligenten Bierbrauer rennen ihm nun die Türen ein. Für Linde ist der plötzliche Ansturm kein Problem. Er hat in der flauen Zeit auf Vorrat produzieren lassen und kann jetzt aus dem Vollen schöpfen. Bis zum Ende der 1880er Jahre rüstet die Gesellschaft 445 Brauereien mit 747 Kältemaschinen aus. 1890 sind bereits 1000 Anlagen verkauft. Für den Boom sorgen nicht nur die Brauereien. Überall richten Städte oder Kommunen eigene Schlachthäuser und Markthallen ein, die gekühlt werden müssen. Gefrier- und Kühlanlagen brauchen auch Eisenbahnen und Schiffe, genauso wie Metzer, Apotheker, Schokoladenhersteller oder Kunsteisbahnbetreiber. Linde kann sie alle bedienen, nicht nur in Bayern oder Deutschland, sondern global. Die junge Firma hat ebenso frühzeitig wie konsequent Tochtergesellschaften gegründet, sich durch Auslandsbeteiligungen international aufgestellt und verkauft bis zum 50. Jubiläum im Jahr 1929 weltweit 6.599 Großkältemaschinen, davon 2057 an Brauereien, 1865 im Bereich der Lebensmittelkühlung und 727 an Eisfabriken.

Im Reich der Minusgrade

Linde zieht sich 1890 aus dem aktiven Geschäft zurück. Er hat die Kältetechnik quasi im Alleingang innerhalb nur einer Dekade als eigenen Industriezweig aufgebaut hat. Jetzt will er zurück in die Wissenschaft. Künftig, so lässt er wissen, möchte er wieder vermehrt seine Erfinderlust ausleben, forschen und unterrichten. Der Kälte bleibt er weiterhin treu und dringt sogar noch tiefer als bisher ins Reich der Minusgrade vor. 1895 gelingt es ihm erstmals größere Mengen Luft so stark abzukühlen, dass diese flüssig wird. Damit stößt Linde die Tür zur Tieftemperaturtechnik auf, die 1902 eine Auftrennung der Luft in ihre Bestandteile Sauerstoff und Stickstoff ermöglicht.

Förderer des Behagens und der Gesundheit

Aber das ist eine andere Erfolgsgeschichte, die schließlich im 20. Jahrhundert zur Etablierung der Linde AG als weltweit führendem Hersteller technischer Gase führen wird. Was Carl Linde für das 19. Jahrhundert bedeutet, bündelt vielleicht am besten eine Laudatio von 1897. Es ist die Urkunde zur Verleihung der Grashof-Denkmünze durch den Verband Deutscher Ingenieure. Die Ehrung, so der Begleittext, geht an "Herrn Dr. Carl Linde, Professor des Maschineningenieurwesens an der technischen Hochschule zu München, der als Forscher und als Lehrer der Jugend sich hohe Verdienste um die deutsche Technik in Wissenschaft und Praxis erworben, durch seine Maschinen und Einrichtungen zur Kälteerzeugung nicht nur das Behagen und die Gesundheit der Menschen gefördert, sondern auch der deutschen Industrie reichlichen Absatz ihrer Erzeugnisse in aller Welt verschafft und in jüngster Zeit durch seine Lösung der Aufgabe, die Gase zu verflüssigen, der Technik neue und vielverheißende Wege eröffnet hat."

Ob sich Carl Linde nach der Verleihung des Ehrenpreises ein kühles Bier genehmigt hat, ist nicht überliefert. Fest steht jedoch die Tatsache, dass ihm zumindest Bayerns Bierbrauer mit Fug und Recht einen feierlichen Gedenktag schuldig wären. Schließlich hat Carl Linde dafür gesorgt, dass sie zwei Dinge nicht mehr brauchen: Kalte Winter und Gereimtes wie

"Mit Eis stopf' deine Keller voll, wenn dein Bier gelingen soll!"

Bayerischer Brauer- und Mälzerkalender


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