Am 18. Januar 1871 wird der preußische König zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Das Königreich Bayern ist nun zwar Teil des neuen deutschen Einheitsstaates, aber nach wie vor sehr auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit bedacht. Dazu soll das süddeutsch-bayerische Nationalgefühl erneut systematisch gestärkt und gegen die Zentralisierungsversuche des norddeutsch-preußisch dominierten Reichs in Stellung gebracht werden.

Postkarten und Abziehbilder

Soweit die Theorie. Die Umsetzung erweist sich jedoch als extrem zwiespältiges Unterfangen. Zum einen lehnt man natürlich die "Saupreußen", ihr ewiges Besserwissen, Modernisieren, Entrümpeln und ihr "Besatzergehabe" ab. Zum andern lebt man aber leider ganz gut vom zunehmenden Fremdenverkehr. Die deutschen Brudervölker, vor allem Berliner und Sachsen strömen in immer größeren Scharen an die bayrischen Seen und ins Voralpenland. Was sie dort suchen und finden, ist neben traumhaft schönen Landschaften ein wiedererkennbares, konfektioniertes, klischeehaftes Bayernerlebnis mit klarer Rollenverteilung: Die Sommerfrischler erwarten krachlederne Urwüchsigkeit, kerniges Brauchtum, handfeste Bodenständigkeit, fliegende Dirndlröcke, lustvolle Juchitzer und deftigen Watschntanz. Die Fremdenverkehrsindustrie liefert das Gewünschte in Form von Heimatabenden, Bierseligkeiten, Blasmusik, gepflegter Derbheit und Fensterlstudien im Bauerntheater.

Geliefert wie bestellt

Was ihnen vor Ort an uriger Volkstümlichkeit geboten wird, haben viele Berliner Besucher schon vorab zuhause durch ein alpenländisches Folklore-Briefing verinnerlicht. Für die nötige Einstimmung und Image-Kalibrierung sorgen beispielsweise Gastauftritte des Schlierseer Bauerntheaters, verschiedenster Schützenzüge, Trachtenvereine und Volksmusikgruppen in der Reichshauptstadt. Zu den rührigsten Veranstaltern folkloristisch durchgestylter Bayernevents zählen die Berliner Sektionen des Deutschen Alpenvereins. Sie organisieren zünftige Alpenabende, die sich vor Besuchern kaum retten können. Das dort von waschechten Paradebayern präsentierte Schuhplatteln, Trachteln und Brauchtümeln wird zum Maßstab künftiger Urlaubsfreuden. Und damit sie bereits voll integriert starten und keine Zeit mit dem Eingewöhnen verlieren, können sich die Urlaubsbayern schon vor dem Reiseantritt in etlichen Berliner Kaufhäusern mit Trachten, Lederhosen, Dirndln, Gamsbärten und anderen hippen Bergler-Accessoires ausstatten.