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Die Würde des Menschen Das Thema

Stand: 12.11.2013 | Archiv

Zwei Hände auf einer vereisten Scheibe | Bild: picture-alliance/dpa

Das so genannte Bodyscreening am Flughafen (das Durchleuchten der Passagiere bis auf die Unterwäsche), die Bespitzelung von Mitarbeitern, das Ausspionieren von Kunden, die Folterandrohung beim Verhör zur Erpressung eines Geständnisses - der Eindruck trügt, dass die Beschäftigung mit dem Grundrecht Menschenwürde in der westlichen Gesellschaft obsolet ist. Vielmehr scheinen manche Entwicklungen der jüngsten Zeit nach einer Bewertung mit dem Maßstab der Menschlichkeit geradezu zu verlangen – auch um sie einschätzbarer zu machen. Das Beispiel Globalisierung zeigt, wie viele Fragen auch die jüngsten technischen Entwicklungen aufwerfen: Wenn die ganze Welt zum Dorf wird, darf dann bald jeder über jeden alles wissen? Wenn persönliche Daten zur Ware werden, bleibt dann der Persönlichkeitsschutz gewahrt? Was ist mit denen, die keinen Zugang ins World Wide Web haben? Wird es bald zu den Menschenrechten zählen, global vernetzt zu sein?

Die Geschichte eines Grundrechts

Der Prozess der "Menschenwürde-Werdung" war langwierig, gleichzeitig ist er eine Leistung, auf die die Weltgemeinschaft stolz sein kann. Einerseits, weil Einflüsse aus vielen Zeiten und Kulturen an der Ausbildung der Grundrechte gearbeitet haben, andererseits, weil ihre Formulierung wie eine Art kleinster gemeinsamer Nenner ist, unter dem sich die Erdbevölkerung sammeln kann. Zugleich enthält sie den höchsten Anspruch in sich – einem jeden Menschen das Recht zu verschaffen, in Freiheit und Würde zu leben.

Der Pionier in Sachen Menschenwürde war im ersten vorchristlichen Jahrhundert Cicero. Der römische Rhetoriker hielt den Menschen wegen seiner Vernunftnatur für würdig - sofern er sich danach verhielt und sittlich einwandfrei lebte. Der Aspekt der Ebenbildlichkeit mit Gott kam im christlich geprägten Mittelalter hinzu und mit ihm der Gedanke, dass sich der Mensch die Würde nicht erwerben muss, sondern sie qua Geburt besitzt. Weniger deterministisch war die Auffassung der Aufklärung: Der Mensch ist würdig durch seine Freiheit. Immanuel Kant näherte sich dem Phänomen von einer anderen Seite: Er betrachtete die Würde als absoluten Wert, nicht zu veräußern, unvergänglich und für jeden im gleichen Maß vergeben, sei er Engel oder Mörder. Der "Gegenwert", den der Mensch zu erbringen hat, ist die Selbstverpflichtung die Stimme der Vernunft sprechen zu lassen und moralisch zu handeln. Glücklicherweise unterstützt uns unsere Anlage zur Moralität in diesem Bemühen, sie muss auch unser Verhalten steuern, damit wir durch das Ausleben unserer Freiheiten nicht die Freiheit eines anderen beschneiden. Übertragen aufs Gesellschaftsganze ist das die Rolle, die dem Staat zufällt: Er garantiert die Rechte des Einzelnen und formuliert in Gesetzen ihre Grenzen.

Das heute wohl bekannteste Menschenrechtsdokument ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet im Dezember 1948 durch die Generalversammlung der UNO. 48 Staaten stimmten damals für die Erklärung, acht enthielten sich der Stimme. In der AEMR wurden die Menschenrechte erstmals weltweit formuliert. Sie gelten über die in den Verfassungen der Staaten garantierten Grundrechte hinaus für alle Menschen und schreiben Freiheits- und Sozialrechte global fest.

Ein Thema auf Leben und Tod

Der Schutz der Menschenwürde ist ein Recht, das sich beständig fortentwickelt und es ist sicher ein Vorteil, dass es zumindest in den demokratischen Gesellschaften einen breiten Konsens über seine Wichtigkeit gibt (die Bedingungen für öffentliche Diskussionen sind hier gut wie selten: die freie Meinungsäußerung gilt, viele Menschen haben die Möglichkeit, sich - etwa über das Demokratisierungsinstrument Internet - Informationen zu beschaffen, Plattformen und Foren geben Raum zum globalen Austausch usw.). Doch der Teufel steckt im Detail und in den  Interpretationen. Das zeigen die Diskussionen über den Tod (um Patientenverfügungen und Sterbehilfe), aber auch um den Start ins Lebens etwa beim Embryonenschutzgesetz oder bei der Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Soll das ehrwürdige Gesetz unangetastet bleiben, weil die Rechtsgrundlagen ausreichen und durch einen Zusatz Kinder zu einer "Extrakategorie" Mensch würden? Oder weil eine Umformulierung des Artikels 6 im Grundgesetz ohnehin nichts an den menschenunwürdigen Zuständen ändert, in denen Kinder mancherorts aufwachsen müssen? Der Formulierungsvorschlag lautet:

"Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und auf den besonderen Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung."

Formulierungsvorschlag des Artikels 6 im Grundgesetz

Oder liegt der Fall genau andersherum und ein Gesetz bleibt nur dadurch lebendig, dass es sich der veränderten Gesellschaft anpasst?

Trotz der langen Tradition und weltumspannenden Gültigkeit existieren bis heute Widerstände gegen die Wahrung der Menschenrechte, etwa in Diktaturen und Polizeistaaten, hier steht das Staatsinteresse über dem Wohl des Einzelnen. Am großen und unrühmlichen Beispiel China tritt das Dilemma der westlichen Länder zu Tage: schadet politischer und wirtschaftlicher Druck der Menschenrechtssache oder ist er eine moralische Verpflichtung? Was dürfen wir tun, um für die Freiheit derer einzutreten, denen ihr Staat die Menschenrechte entzogen hat?

Grauzonen eines Grundsatzes

Der Grundwert Menschenwürde ist immer dann umstritten, wenn es abzuwägen gilt zwischen zwei Menschen: Was hat Priorität, wer darf entscheiden, ist die Würde eines einzelnen Menschen weniger wert als das Freiheitsrecht von ganz vielen, steht die Würde eines potentiellen Opfers über der des Täters? Bei der Terrorismusbekämpfung bekommt diese Frage Brisanz: Rechtfertigt die Abwehr eines Angriffs auf Menschenleben das Opfer von Menschenleben? Dazu der frühere Innenminister Wolfgang Schäuble:

"Die Menschenwürde ist ein Prinzip, auf dem alle Grundrechte beruhen. Daran gibt es keine Zweifel. Aber Karlsruhe selbst hat in seinem Urteil sehr richtig gesagt, dass die Lage im Verteidigungsfall anders ist. Dort gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit."

Wolfgang Schäuble

Doch gerade im Kampf gegen wirkliche und vermeintliche Terroristen entstehen Grauzonen: Das Deutsche Institut für Menschenrechte listet eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen auf, die im Namen der Terrorbekämpfung geschehen sind.

Auch die Frage nach dem Abtreibungsrecht sorgt für Konfliktstoff - vor allem, weil die eine Seite nicht für sich selbst sprechen kann und also Anwälte braucht, nur: vertreten die wirklich immer das kindliche Interesse? Dabei darf man diesen Aspekt durchaus persönlich nehmen. Wenn schon bei vergleichsweise wenig existenziellen Problemen die Menschenwürde angerufen wird, muss die Kritik erlaubt sein, dass wir das Thema durch zu laxen Umgang entwerten und aufweichen. Buchtitel wie "Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung" legen einen solchen Auflösungsprozess nahe. Nur - was kommt statt dessen?


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