Bayern 2 - radioWissen


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Orientierung ohne Glaube

Von: Simon Demmelhuber / Sendung: Matthias Morgenroth

Stand: 12.12.2014 | Archiv

Ethik und PhilosophieMS, RS, Gy

Die wichtigen Momente des Lebens feiern? Unbedingt! Aber Kirche, Pfarrer und Gott? Lieber nicht! Freie Rituale machen Feste mit Tiefgang und maßgefertigtem Lifestyle-Design statt konfessioneller Stangenware möglich.

Geboren werden, aufwachsen, arbeiten, altern, sterben. Das ist der Lauf der Dinge, ein ganz normales Leben. Aber reicht das: Immer nur normal und unauffällig, nie besonders, einzigartig, unverwechselbar sein? Nein, das reicht nicht! Wir wollen gesehen und wahrgenommen werden, nicht als biologische Meterware ohne Glanz und Anerkennung vor uns hinvegetieren. Und wir suchen nach Wegweisern, nach Zuspruch und Ermutigung an entscheidenden Wendepunkten, wenn große Veränderungen anstehen und Lebensweichen gestellt werden, wenn es darum geht, Gewesenes zu bilanzieren und Kommendes anzupacken.

Von der Wiege bis zur Bahre

Genau dafür sind Rituale da. Sie heben unser Dasein aus der Bedeutungslosigkeit, stiften Sinn, geben Kraft, spenden Trost. Rituale schärfen das Bewusstsein für die großen Lebensthemen, für Geburt, Erwachsenwerden, Bindung und Tod. Sie begleiten die Übergänge von einem Abschnitt zum nächsten und sagen: "Schaut her, das bin ich, das habe ich geschafft, hier stehe ich."

Ein Hauch von Ewigkeit

Mit Taufe, Firmung, Kommunion, Hochzeit und Beerdigung haben die Kirchen mächtige Rituale entwickelt, die unseren Hunger nach Sinn, Selbstwerterleben und Orientierung über Jahrhunderte hinweg stillten, die unserem Leben einen festen Rahmen und klare Strukturen gaben. Sie schufen eine Welt voller symbolischer Bedeutung, die unser kleines Hier und Jetzt in größere, geistige Zusammenhänge einrückte und sakramental überhöhte. Getragen von einer zeichenhaften, stets unverändert wiederholten Handlung wurden wir Teil einer höheren Wahrheit, die Dauer, Beständigkeit und göttlichen Segen vermittelt.

Die neue Vielfalt

Doch das Ritualmonopol der Kirchen bröckelt, der sakrale Überbau bricht weg. Immer mehr Menschen entfernen sich von traditionellen Glaubensvorstellungen und Glaubenspraktiken. Der moderne Wertepluralismus, die Vielfalt interreligiöser Einflüsse, alternative Lebensmodelle, vor allem aber eine zunehmende Glaubens- und Kirchenferne haben das traditionelle Bezugssystem ausgehöhlt. Das Bedürfnis nach Ritualen besteht jedoch nach wie vor und bereitet den Boden für ein stetig wachsendes Angebot "freier", nicht religiös fundierter "Lebensfeiern".

Maßanfertigung statt Meterware

Wer sich mit dem Ritualrepertoire der Großkirchen nicht mehr identifiziert oder aus religiösen Gründen davon ausgeschlossen ist, aber trotzdem nicht auf Feste mit symbolischem Mehrwehrt verzichten möchte, findet Rat und Hilfe bei Agenturen für Paarrituale, freien Ritualbegleitern und Zeremonienmeistern. Das Angebot ist breit aufgefächert und bunt wie das Leben. Für jeden Wunsch, jeden Anlass, jedes Alter und jeden Lifestyle ist gegen entsprechendes Entgelt gesorgt. Die Palette reicht von alternativen Taufen, schamanischen Übergangsriten und dem Einsatz der ersten Monatsblutung oder Menopause, über freie Trauungen, Schwulen- und Lesbenhochzeiten, bis hin zur Scheidungs-und Trennungsfeier, zum Fest der Pensionierung oder der strikt atheistischen Lebensabschiedszeremonie.

Hauptsache persönlich und individuell

Anders als Kirchen punkten die weltlichen Ritualdesigner dabei mit dem Versprechen absoluter Individualität. Was zählt, ist der persönliche Stil, das festlich inszenierte "Ich". Freie Rituale ankern nicht in der allen gemeinsamen, fertig übernommenen Heilsgeschichte. Sie betonen die Einzigartigkeit der eigenen Lebens- oder Paargeschichte und werden nach den Wünschen, Vorstellungen und Vorlieben der Auftraggeber maßgeschneidert. Das macht sie unverwechselbar, aber auch beliebig. Das Besondere und das Abgesonderte liegen gefährlich nah beieinander. Ein dickes Fragezeichen zumindest bleibt: Wie wirksam, wie heilsam können bedarfsgerecht erfundene Privatrituale sein, die uns letztlich doch nur auf uns selbst zurückwerfen, statt uns in größere soziale und kulturelle Zusammenhänge einzubinden?


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