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Essen und die Schöpfungsordnung

Essen in den Religionen Essen und die Schöpfungsordnung

Stand: 13.09.2017

Arbeit von Mehmed Siyah Kalem aus den"Conqueror's Alben", 15. Jahrhundert | Bild: picture-alliance/dpa

Alle Religionen ziehen eine scharfe Grenze zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Das Heilige ist lebensspendend, ewig, wahr, unsterblich, makellos, geordnet, eindeutig, erhaben. Das Profane versammelt alles, was nicht dem Heiligen zugehört. Es ist labil, sterblich, verworren, todgeweiht, ungeordnet, widersprüchlich, mehrdeutig, dunkel, unsicher. Eine Möglichkeit, diese fundamentale Gegensätzlichkeit auszudrücken, ist die Unterscheidung von "rein" und "unrein". Dabei steht das "Reine" als religiöses Ursymbol für die Vollkommenheit der Schöpfungsordnung. Das "Unreine" subsummiert alles, was die geheiligte Ordnung aggressiv und expansiv leugnet, gefährdet oder mit Zerstörung bedroht.

Alles Unreine ist ein Gräuel

Die Reinheit des Heiligen ist absolut und exklusiv. Jede Gottesbegegnung, jede Bitte auf göttliche Segnung, göttlichen Schutz und göttliche Erhörung setzt kultische Reinheit voraus. Unreinheit verstellt den Zugang zum Heiligen, entwertet Gebet und Opfer. Deshalb kennen alle Kulturen und Religionen spezifische Regeln zur Herstellung, Aufrechterhaltung oder Wiedergewinnung kultischer Reinheit. Zu diesem Instrumentarium der Heiligung des Lebens gehören auch Nahrungsgebote beziehungsweise Nahrungstabus, die auf dem Gegensatz von "rein" und "unrein" beruhen. Hinter dieser metaphorischen Unterscheidung sind Vorstellungen wirksam, die Eigenschaften des Heiligen wie Eindeutigkeit und Unvermischtheit mit reinen, also erlaubten Nahrungsmitteln, und Eigenschaften des Profanen wie Mehrdeutigkeit und Vermischtheit mit unreinen, also verbotenen Nahrungsmitteln gleichsetzen.

Durcheinander und Ordnung

Als kultisch unrein gelten daher vor allem im Judentum bestimmte Speisen und Zubereitungsarten, die ursprünglich getrennte Lebensbereiche vermengen. Der Abscheu vor Vermischtem ist ein Spiegel des göttlichen Schöpfungsaktes. Denn im Anfang, so berichtet die Genesis, ist nichts als "Irrsal und Wirrsal", "Wüste und Leere", ein echtes Tohuwabohu. Aus diesem gestaltlosen Urchaos formt Gott die Welt durch eine Reihe elementarer Trennungen: Er scheidet das Licht von der Finsternis, das Wasser von der Erde, das Feste vom Flüssigen, das Obere vom Unteren und die Tiere der Luft von denen des Wassers und der Erde. Diese Ordnung, die aus Geschiedenheit und Sonderung erwächst, darf durch den Menschen nicht gestört werden: Das Geschöpf soll nicht vermengen, was der Schöpfer gestaltend getrennt hat.

Was Gott getrennt hat, soll geschieden bleiben

Dieser Ansatz deckt längst nicht alle Fälle der jüdischen und islamischen Speisegebote ab und ist auch keineswegs widerspruchsfrei. Trotzdem macht er wesentliche Züge nachvollziehbar: Unrein, also für den menschlichen Verzehr ungeeignet, ist alles, was ursprünglich Getrenntes im Nachhinein zusammenzwingt. Unrein sind damit vor allem Tiere, die nicht eindeutig den von Gott geschiedenen Lebenssphären angehören. Solche Hybridwesen, die wie der Aal zwar im Wasser leben, aber weder Flossen noch Schuppen haben, oder fliegende Vierfüßler beziehungsweise Landtiere, die keine Beine haben und auf dem Boden kriechen, repräsentieren die Kräfte der Unordnung, des Dämonischen. Denn alles Vermischte leugnet und verspottet die göttliche Ordnung. Deshalb weist alles Monströse, Ungeheuere, Teuflische die Spuren karikierender Verschnittenheit auf, daher zeigen die Spottgeburten der Finsternis stets zugleich Klauen, Fangzähne, Flügel, Schwänze, Schuppen, Fell, Hörner und andere Attribute disparater Lebensbereiche. Der Mensch darf mit diesen üblen Kräften nicht in Berührung kommen. Und er darf sie vor allem und schon gar nicht mit der Nahrung aufnehmen. Sie würden unweigerlich Besitz von ihm ergreifen, ihn unrein und unfähig zur Begegnung mit dem Göttlichen machen.

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