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Essen stiftet Identität

Essen in den Religionen Essen stiftet Identität

Stand: 13.09.2017

Ramadan in Indien | Bild: picture-alliance/dpa

Fußballtrikots und Uniformen teilen eine Doppelfunktion: Sie signalisieren die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und zeigen zugleich, wer nicht dazu gehört. Speisegebote und Speisetabus haben denselben Effekt. Sie begründen, definieren und stärken eine maßgeblich durch sie geprägte Identität und ziehen die Grenze zu allem, was außerhalb dieser Gemeinschaft bleibt. Darüber hinaus ermöglichen sie eine Reihe weiterer Differenzierungen: Sie trennen beispielsweise die Lauen von den Eifrigen, die Frommen von den Weltlichen oder die Gesetzestreuen von den Abtrünnigen.

Soziale Ordnungskonzepte

Soziokulturell betrachtet haben religiöse Speisegebote damit hauptsächlich zwei Aufgaben: Sie dienen erstens der Herstellung, Sicherung und Abgrenzung eines kollektiven Selbstkonzepts durch gemeinsame Normen sowie ein entsprechendes Belohnungs- und Strafsystem. Und sie ermöglichen zweitens die Errichtung und Stabilisierung einer sozialen Binnenordnung, indem sie beispielsweise zwischen Laien und Priestern unterscheiden und Vorrechte, Pflichten oder Zuständigkeiten festlegen.

Assimilationsdruck und Selbstbehauptung

Diese Wirkungszusammenhänge werden beispielsweise in der Geschichte des Judentums immer dann sichtbar, wenn der politische, religiöse und kultische Fortbestand des Volkes Israel durch äußere oder innere Bedrohung gefährdet ist. Zu den einschneidenden Krisenerfahrungen dieser Art gehört vor allem die Zeit des Exils von 597 bis 539 vor Christus, als die nach Babylon verschleppte Bevölkerung Judäas einem immensen Assimilationsdruck ausgesetzt ist. Viele Exilanten machen im Lauf der Jahre ihren Frieden mit der Situation und nehmen babylonische Integrationsofferten an. Erst in der Reaktion auf diese "schleichende Babylonisierung" bilden sich wesentliche Elemente des Judentums als bewusste Abgrenzungshaltung und Identitätsanker heraus. Der stärker denn je betonte gemeinsame Glaube mit all seinen kultischen Vorschriften (Beschneidung, Speise- und Reinheitsgebote, Sabbatruhe) wird zum prägenden Moment der kultischen Selbstbehauptung. Ähnliche Zuspitzungen einer religiös und kulturell motivierten Abgrenzung wiederholen sich in der Abwehr hellenistischer Einflüsse und vor allem nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 nach Christus. In all diesen Krisenphasen bewährt sich die verschärfte Betonung der Speisegesetze als prägendes Element jüdischer Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung.

Künstliche Grenzziehung

Nach diesem Muster funktionieren alle Speisegesetze weltweit: Sie werden in erster Linie dann aktiviert, wenn es gilt, einen kultischen und kulturellen Zusammenhalt zu fördern, der durch einen aufgezwungenen Assimilationsdruck beziehungsweise freiwilligen Assimilationswillen akut gefährdet ist.

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