Bayern 2 - radioWissen


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Dem Leben seinen Lauf lassen

Von: Simon Demmelhuber / Sendung: Claudia Simone Dorchain

Stand: 15.04.2015 | Archiv

Ethik und PhilosophieRS, Gy

Der Daoismus gilt als "Seele Chinas", als ursprünglichster, echtester Ausdruck chinesischen Denkens und Fühlens. Was ist das für eine Philosophie und Religion, die das Namenlose, Unergründliche ins Zentrum ihres Glaubens stellt?

Ja klar, aber! Klar wird Dao mit 'Weg' übersetzt. Aber was ist damit gesagt? Klar ist Dao der 'Pfad', die 'Straße'. Aber das reicht nicht. Die deutschen Wörter sind zu eng, zu konkret. Sie wecken die Vorstellung von Strecke und Ziel, von etwas Linearem, etwas Messbarem. Von etwas, dessen Bedeutung sich präzise auf den Punkt bringen lässt. Damit hat Dao nichts zu tun. Es ist mehr. Das Dao ist unergründlich, unlotbar, namenlos. Es hat keinen Anfang und kein Ende, keine Zeit und keinen Ort.

Die Einladung ins Offene

Ja klar, aber was ist es? Mit Sicherheit einer der weitesten, umfassendsten und vielschichtigsten Begriffe der chinesischen Philosophie. Das Dao ist die Totalität schlechthin. Es ist die gebärende Urkraft, die alles aus sich heraus geschaffen hat. Es ist die letzte, ursprünglichste Wirklichkeit, der unbedingte Urgrund allen Seins, das gestaltende, ewig währende Schöpfungsprinzip, der Gang und Lauf der Dinge, das Lebens- und Naturgesetz schlechthin.

Die wesenhafte Ungestalt

Die begriffliche Unschärfe des Dao ist kein terminologisches Versagen, sondern wesenhaft und angemessen. Nur das Leere kann die Unendlichkeit fassen. Da das Dao ewig, unendlich, gestaltlos und absolut ist, lässt es sich nicht in enge Begriffsgrenzen sperren. Was das Dao ist, lässt sich allenfalls umkreisen, in paradoxen und bildhaften Wendungen ahnen, als Schwingungsfeld erfahren, durch Leerstellen andeuten. Das Dao lässt sich intuitiv schauen, quasi im Augenwinkel erfahren, aber nicht trennscharf erklären.

Die Rätsel des Alten Meisters

Die Ursprünge des philosophischen und kosmologischen Dao verlieren sich im Dunkel der chinesischen Geschichte. Vermutlich gehen seine Anfänge weit hinter das erste vorchristliche Jahrtausend zurück. Etwa um 400 vor Christus manifestiert sich die Lehre vom Dao in einer Textsammlung, die einige Jahrhunderte später "Tao-te-King" heißen und als Werk des Lao-tse gelten wird. Das Rätselraten um den vermeintlichen oder tatsächlichen Verfasser der daoistischen Urschrift dauert schon lange und hält an. Die Legende sagt, er habe im 6. Jahrhundert vor Christus als Archivar gelebt und aufgrund des Sittenverfalls und der Unordnung im Land beschlossen, China zu verlassen. Kurz bevor er die Westgrenze passiert, bittet ihn ein Zöllner, sein Weisheitsbuch zu schreiben. So könnte es gewesen sein. Vielleicht aber war der Name Lao-tse, er bedeutet "Alter Meister", ursprünglich nur der Ehrentitel eines anonymen Autors oder Herausgebers, der alte, verstreute und von anderen verfasste Texte in einer Sammlung bündelte. Möglicherweise war "Alter Meister" jedoch auch der Buchtitel selbst, und ein Versuch, dem Kompendium die Autorität einer ehrwürdigen Tradition zu verleihen. Oder gab es doch einen bestimmten Urheber, der nicht im 6., sondern im 3. Jahrhundert vor Christus lebte, nicht Lao-tse hieß, aber im Lauf der Zeit so genannt wurde?

Das Buch vom Weg und der Tugend

Nicht weniger geheimnisvoll als sein Verfasser ist das Tao-te-King selbst. Das schmale Werk enthält 81 knappe Kapitel und wird traditionell in zwei Abschnitte gegliedert. Der erste Teil (Kapitel 1-37) widmet sich dem Dao, der zweite Teil dem De, einem Begriff, der mit Macht, Kraft, Jugend übersetzt wird. Die oft gereimten Texte sind lakonisch, knapp, sentenzenhaft gehalten; paradoxe, kryptische und bildhafte Wendungen vereiteln den einfachen Zugang, erhöhen aber auch den Reiz des Buchs und halten es seit nahezu 2000 Jahren lesefrisch. Vielleicht erklärt die Aura des Schwierigen, Widerspenstigen und Geheimnisvollen auch das anhaltende interkulturelle Interesse am Tao-te-King: Nur die Bibel wurde häufiger übersetzt, rund hundert Versuche zählt alleine die Liste der deutschen Übertragungen.

Das Prinzip des Dao verwirklichen

Aufbauend auf der Lehre vom Dao finden sich im Tao-te-King mystische und politische Betrachtungen neben philosophischen Reflexionen, Gesundheitsratschlägen, Anleitungen zur Lebenspraxis und Staatskunst. Trotzdem ist das Werk keine Anhäufung beliebiger Spruchweisheiten. Die Texte haben, bei aller Dunkelheit, eine klare Aussage: Um das Prinzip des Dao zu verwirklichen, müssen Mensch und Gesellschaft den Lauf der Natur respektieren und eins werden mit dem universalen Lebensgesetz. Nur wenn das kosmische Prinzip eingehalten wird, manifestiert sich die Kraft, die Tugend, die Güte und Ordnung des Dao. Anders gesagt: In der vollkommenen Harmonie und Einheit des Menschen mit dem Dao erfüllt sich das Weltgesetz.

Das Leere wird bebildert

Ab dem 1. Jahrhundert nach Christus entwickelt sich aus dem philosophischen Daoismus im Lauf der Zeit eine daoistische Religion mit kultischer Praxis, Priestertum und Tempeldiensten. Lao-tse, der historisch nicht fassbare und nur legendär bezeugte Verfasser des Tao-te-King, wird zum Heiligen erhoben, zum "Kaiser des Mystischen Urgrunds" verklärt. Das Bedürfnis nach Anschaulichkeit füllt die abstrakte Leere des philosophischen Dao mit Riten, Heiligen, Göttern und bisweilen scharlatanesken Zauberpraktiken, die Unsterblichkeit gewähren sollen.

Die Fülle in der Leere finden

Neben dieser religiösen und kultischen Tradition, die anscheinend selbst die Jahre der kommunistischen Verdrängung unbeschadet überstanden hat, ist auch der philosophische Daoismus stets lebendig geblieben. Gerade im Westen zieht seine tiefgründig-elegante Schlichtheit viele Menschen an, die nach geistiger Weite und Offenheit, nach moralisch-ethischer Orientierung ohne doktrinäre Enge suchen. Im Dao und im Tao-te-King werden sie fündig: "Wenn du vergleichen willst / Des Weges Dasein in der Welt / Es gleicht dem Bach, dem Talfluss,/ Die strom- und meerwärts treiben."


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