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Das Thema Gefühltes Mittelalter

Stand: 06.06.2013 | Archiv

Die romantische Affinität für das Mittelalter hat mehrere Gründe. Ein Berührungspunkt ist dabei sicherlich die Vorstellung einer doppelten Schöpfung in Natur und Geist. Im Mittelalters manifestiert sich dieses Denken in der Erkenntnis, dass Gott die Welt zweimal geschaffen hat: Einmal in der gegenständlichen Gestalt der Natur, einmal in der geistigen Gestalt der Heiligen Schrift.

Diese beiden Schöpfungen stehen komplementär zueinander. Zum einen trägt jedes Ding, jede Pflanze, jede Kreatur, jeder Gegenstand, jede Naturerscheinung einen vom Schöpfer eingeschriebenen, dechiffrierbaren Hinweis auf das Wesen und Wollen Gottes. Analog dazu enthält jedes in der Schrift genannte Ding, jede Handlung, jedes Wort über seine buchstäbliche Bedeutung hinaus einen vom göttlichen Autor hineingelegten geistigen Sinn. Damit sind Bibel und Welt ein sich gegenseitig erhellendes, unerschöpfliches Erkenntnisreservoir, das nur richtig gegeneinander gelesen werden muss, um den Schleier des Geheimnisses zu lüften. Wer diese komplementäre Entzifferung, diese Überblendung meistert, erblickt im Spiegel des Sichtbaren den eigentlichen, unsichtbaren, geistigen Bau der Welt. Damit besteht wahre Welterkenntnis für das Mittelalter darin, die Vestigia Dei, also die Gottesspur in beiden Schöpfungen verständig zu lesen und sinnhaft zu deuten.

Um die Mitte des 12. Jahrhunderts gießt der französische Zisterziensermönch Alanus ab Insulis dieses Erkenntismodell in eine Formulierung, die im Wesentlichen bis zur Aufklärung gültig bleibt: Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est, et speculum. / Nostrae vitae, nostrae mortis, /nostri status, nostrae sortis / fidele signaculum: Die Geschöpfe dieser Erde sind für uns wie ein Buch und ein Gemälde und ein Spiegel. Sie sind ein verlässliches Abbild unseres Lebens, unseres Sterbens und unseres Schicksals.

Die Parallelen zum romantischen Postulat der Identität von Natur und Geist bzw. einer dialektischen Komplementarität von Natur und Geist liegen auf der Hand. Sowohl in der Grundannahme einer geistgeschöpften Natur als auch eines zeichenhaften, in Allegorien und Symbolen aufgespürten Weltverständnisses berühren sich beide Epochen ausgesprochen eng.

Zum anderen eignet sich das Mittelalter vorzüglich als Projektionsraum einer einst realen, nun aber verlorenen Einheit getrennter Lebensbereiche, die es wiederherzustellen gilt. Das nicht im Mindesten historisch exakt rekonstruierte, sondern vielmehr "gefühlte" und idealisierte Mittelalter der Romantik erscheint als eine Zeit, in der die gegenwärtigen Klüfte zwischen Glauben und Wissen, zwischen Mensch und Natur, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Bewusstsein und Sein, Endlichem und Unendlichem aufgehoben waren. Genau diese Einheit zu restituieren, die Welt erneut zu beleben, zu poetisieren und zu romantisieren, ist ein wesentliches Ziel der Romantik. Weil dieses Ziel noch in der Zukunft liegt, ist der romantische Blick zurück letztlich kein Blick nach hinten, ist er nicht retrospektiv, sondern seiner Intention nach ein progressiver Blick nach vorne.


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