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Das Thema Die Blaue Blume der Romantik

Stand: 11.02.2015 | Archiv

Mit ihr wird ein Symbol zum Symbol für eine ganze Epoche: Die Blaue Blume, die der Held in Novalis' Romanfragment Heinrich von Ofterdingen sucht, gilt als Inbegriff des Romantischen schlechthin. Und das mit allem Recht. Heinrich, ein werdender Dichter des 13. Jahrhunderts, erblickt diese Blume gleich zu Beginn des Romans im Traum: Er betritt eine blauschimmernde Höhle, wo er ein weites Wasserbecken findet. Hier spürt er ein unwiderstehliches Verlangen zu baden, entkleidet sich und steigt in das Becken. Sobald er eingetaucht ist, befallen ihn Bilder und Empfindungen nie gekannter Wollust.

Die sexuellen Konnotationen dieser Erfahrung sind unmissverständlich: "Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten." Vom weiblichen Element verlockt folgt Heinrich schwimmend einen leuchtenden Strom, der immer weiter in den Fels hineinfließt. Er fällt in Schummer und erwacht inmitten dunkelblauer Felsen auf weichem Rasen am Rande einer Quelle.

"Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchen ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung."

Novalis: Heinrich von Ofterdingen

Sehnsucht, Selbstsuche, Sex

Nach diesem Traum bricht Heinrich zu einer Reise von seinem Geburtsort Eisenach nach Augsburg auf. Doch dies ist nur der schemenhaft ausgeführte äußere Handlungsrahmen. Auf der Bedeutungsebene tritt Heinrich eine innere, allegorische Bildungsreise an, die ihn zum Dichter werden lässt. Sein eigentliches Ziel liegt im "Land der Poesie", in dem Vergangenheit und Gegenwart, Endliches und Unendliches, Natur und Geist zu einem harmonischen Ausgleich gefunden haben. Die unentwegt treibende Sehnsucht nach diesem unerreichbaren Ziel ist im Bild der Blauen Blume ausgedrückt. Auf einer konkreteren Ebene steht die Blaue Blume überdies für die Sehnsucht nach erlösender Liebe. "Heinrich wird auf dieser Reise zum Dichter reifen und die höchste Reifung des Dichters bedeutet, der Liebe zu begegnen. Er hat ja diese Frau namens Mathilde, die er in Augsburg als die Tochter des Dichters Klingsohr trifft, bereits im Traum vorausgesehen: Sie ist die Blaue Blume, sie ist die Blume der Sehnsucht seines Lebens. So wie er sie geträumt hat, begegnet er ihr dann auch in Augsburg. Das Innen und das Außen, der Traum und die Realität gehören also in diesem Roman zusammen", bündelt der Germanist Wolfgang Frühwald das Romangeschehen.

Am Ende des sechsten Kapitels, als Heinrich mit Mathilde zusammentrifft, greift Novalis das Motiv der Blauen Blume nochmals auf: "Ist mir nicht zumute, wie in jenem Träume, beim Anblick der blauen Blume? Welcher sonderbare Zusammenhang ist zwischen Mathilden und dieser Blume? Jenes Gesicht, das aus dem Kelche sich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht […] O! sie ist der sichtbare Geist des Gesanges […]. Sie wird mich in Musik auflösen. Sie wird meine innerste Seele, die Hüterin meines heiligen Feuers sein. Welche Ewigkeit von Treue fühle ich in mir! Ich ward nur geboren, um sie zu verehren, um ihr ewig zu dienen, um sie zu denken und zu empfinden. Gehört nicht ein eigenes ungeteiltes Dasein zu ihrer Anschauung und Anbetung? Und bin ich der Glückliche, dessen Wesen das Echo, der Spiegel des ihrigen sein darf? Es war kein Zufall, daß ich sie am Ende meiner Reise sah, daß ein seliges Fest den höchsten Augenblick meines Lebens umgab. Es konnte nicht anders sein; macht ihre Gegenwart nicht alles festlich?"


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