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Das Thema Umschwünge

Stand: 22.11.2011 | Archiv

Im April 1801 treffen Kleist und seine Schwester Ulrike in Paris ein. Die Briefe, die er von hier nach Deutschland schickt, zeichnen das Bild eines entwurzelten Menschen, der jedes Lebensziel und jeden Glückshoffnung verloren hat.

Neuorientierung in Paris (1801)

"Soll ich denn ohne Ziel, ohne Wunsch, ohne Kraft, ohne Lebensreiz umherwandeln auf diesem Sterne, mit dem Bewußtsein, niemals ein Örtchen zu finden, wo das Glück für mich blüht?" steht in einem Brief an Wilhelmine von Zenge vom 21. Juli 1801.

Mit 24 Jahren sitzt Kleist wieder einmal, oder eigentlich noch immer, zwischen allen Stühlen. Mit dem Verlust der Erkenntnisgewissheit scheint ihm jedes Zugehörigkeitsgefühl abhanden gekommen. Er durchlebt eine Zeit extremer Diskrepanzerfahrungen, alles zerfällt um ihn her und ihm, alles ist irgendwie schief in diesem Leben. "Ach, dunkel, dunkel ist das alles“, klagt er und bedauert, “nie den Augenblick ergreifen zu können, und immer an einem Orte zu leben, an welchem ich nicht bin, und in einer Zeit, die vorbei, oder noch nicht da ist."

Der Umschwung - Vom Verstand zum Gefühl

Die Wissenschaft hat nichts mehr zu bieten, womit er sich aus diesem Sumpf ziehen könnte. Ihre "zyklopische Einseitigkeit" ist ihm schal, verächtlich, geradezu ekelhaft geworden. Denn "bei den Küssen seines Weibes denkt ein echter Chemiker nichts, als daß ihr Atem Stickgas und Kohlenstoffgas ist. Wenn die Sonne glühend über den Horizont heraufsteigt, so fällt ihm weiter nichts ein, als daß sie eigentlich noch nicht da ist - Er sieht bloß das Insekt, nicht die Erde, die es trägt, und wenn der bunte Holzspecht an die Fichte klopft, oder im Wipfel der Eiche die wilde Taube zärtlich girrt, so fällt ihm bloß ein, wie gut sie sich ausnehmen würden, wenn sie ausgestopft wären."

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Kleist findet es im extremen Umschwung, im radikalen Umbruch seiner Lebensaxiome. An die Stelle der entzauberten Vernunft tritt nun das Herz als leitende Instanz. Wusste er sich bislang der Aufklärung und dem Verstand verpflichtet, nähert er sich nun Positionen an, die ausschließlich Gefühl im den Schlüssel wirklicher Welterfahrung sehen. "Sind wir da, die Höhe der Sonne zu ermessen, oder uns an ihren Strahlen zu wärmen? Genießen! Genießen! Wo genießen wir? Mit dem Verstande oder mit dem Herzen? Ich will es nicht mehr binden und rädern, frei soll es die Flügel bewegen, ungezügelt um seine Sonne soll es fliegen, flüge es auch gefährlich, wie die Mücke um das Licht."


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